Merkel: "Achtung vor der Lebensleistung der Bürger"
Die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel empfing das Magazin BUNTE zu einem Sommerinterview, das in der heutigen Ausgabe der BUNTE erschienen ist. Mit Chefredakteurin Patricia Riekel und deren Stellvertreter Sebastian Graf von Bassewitz sprach Angela Merkel unter anderem über die erfolgreiche Euro-Rettung, die Steuererhöhungsorgien der Opposition und darüber, wie sie in stressigen Zeiten Erholung findet.
Das Interview im Wortlaut:
Besuch bei der mächtigsten Frau der Welt! Ein Mitarbeiter des Berliner Kanzleramts führt die BUNTE-Reporter in den siebten Stock – die „Leitungsebene“. Von hier aus regiert Angela Merkel, 59, seit fast acht Jahren Deutschland. Im lichtdurchfluteten Atrium, direkt vor dem Büro der Bundeskanzlerin, hängen riesige Bilder der Maler A. R. Penck und Gerhard Richter – Millionenwerte, Leihgaben der Bundesrepublik Deutschland.
Mucksmäuschenstill ist es hier oben. Der Teppichboden schluckt jeden Schritt. Nur der Wind, der sich an den 36 Meter hohen Betonsäulen bricht, heult manchmal laut auf, wie im Gemäuer einer alten Burg. Gut gelaunt bittet die Kanzlerin in ihr Büro, ein großes Eckzimmer mit Blick auf Reichstag und Tiergarten. Der Schreibtisch der Bundeskanzlerin ist leer. Angela Merkel arbeitet lieber an einem schlichten Konferenztisch, an dessen Kopfende sich die Akten türmen. Im Hintergrund das Ölgemälde „Bauerngarten“ von Emil Nolde. Auf der meterlangen türkisen Fensterbank macht der Besucher eine überraschende Entdeckung: Drei Modelle von Wüstenoasen, komplett mit Kamelen und Palmen stehen da – in funkelndem Gold! Gastgeschenke von Herrschern aus dem Morgenland für die deutsche Regierungschefin. Behalten darf Angela Merkel diese Geschenke nicht, aber sie scheinen ihr Freude zu bereiten, vielleicht weil sie von der kargen Schönheit der Wüsten fasziniert ist, wie sie es mal erzählt hat. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl am 22. September will BUNTE von der Kanzlerin wissen, was auf uns zukommt und woraus sie persönlich Kraft schöpft.
BUNTE: Frau Bundeskanzlerin, Europa stand in den vergangenen Monaten oft am Abgrund: Bankenbeben, drohende Staatsbankrotte, Eurokrise. Ist das Schlimmste vorbei oder müssen wir uns auf noch schlimmere Nachrichten einstellen?
MERKEL: Ich habe immer gesagt, dass die Krise nicht über Nacht gelöst werden kann, sondern nur in einem Prozess aufeinanderfolgender Schritte und Maßnahmen. Wichtiges haben wir dabei schon geschafft. Die Welt hat gemerkt, wie sehr wir Europäer uns zum Euro als unserer Währung bekennen und dass wir gemeinsam alles Nötige tun, um ihn zu stärken. In Europa wird jetzt stärker als je zuvor auf solide Haushalte hingearbeitet, die von der Krise besonders betroffenen Länder nehmen dafür harte Reformmaßnahmen auf sich. Dem steht die europäische Solidarität gegenüber, die sich zum Beispiel im europäischen Stabilitätsmechanismus ausdrückt. Jetzt ist es ganz wichtig, dass die Wirtschaft in der Eurozone wieder an Fahrt gewinnt, damit die Betriebe auch neue Arbeitsplätze schaffen können. Dafür muss der Reformprozess konsequent weitergehen. Priorität hat das, was Europas Wirtschaft wieder wettbewerbsfähiger macht: ein kluges, flexibles Arbeitsrecht, Investitionsfreundlichkeit, Bürokratieabbau. Gelingt uns das, wird der Euro stärker als vor der Krise sein.
BUNTE: Trotzdem, viele Menschen haben Angst um ihr Geld, ihr Erspartes. Sie fragen sich: Was wird meine Altersversorgung noch wert sein, wenn ich sie brauche? Ganz Besorgte legen sich sogar kleine Goldreserven an.
MERKEL: Ich verstehe gut, dass für uns Deutsche, die wir historisch einschneidende Inflationserfahrungen haben, die Geldwertstabilität so wichtig ist. Aber der Blick auf die Fakten zeigt, dass wir zurzeit eine niedrige Inflation haben und die Europäische Zentralbank den Geldwert seit Langem erfolgreich stabil hält, wie es ihr Auftrag ist. Und ich als Bundeskanzlerin werde weiter alles tun, damit der Euro noch stärker als vor der Krise wird.
BUNTE: Bei Ihrem Versuch, den Euro zu retten, hat man Sie im Ausland oft scharf kritisiert. Man wirft Ihnen vor, nur deutsche Interessen im Blick zu haben. Wir erinnern uns an Karikaturen von Ihnen mit Hitler-Schnauzbart oder die öffentliche Verbrennung von
„Merkel-Puppen“. Schmerzt so eine Kritik?
MERKEL: Nein, das gehört alles zur freien Meinungsäußerung. Es ist doch eigentlich großartig, dass niemand in der EU um seine Freiheit fürchten muss, mag er seine Kritik auch noch so zugespitzt kundtun, solange alles friedlich und gewaltfrei geschieht. Wir können durchaus stolz darauf sein, welch ein demokratischer und rechtsstaatlicher Kontinent Europa ist. Als deutsche Bundeskanzlerin vertrete ich deutsche Interessen, was im konkreten Fall heißt, dass es auch Deutschland auf Dauer nur gut geht, wenn es auch Europa gut geht. Dazu gehören zurzeit auch mühsame Reformprozesse. So schmerzlich sie sein mögen, am Ende werden sie Europa helfen, seine Werte und Interessen in der Welt auch in Zukunft zu behaupten.
BUNTE: Zum Stichwort Wirtschaftsaufschwung: Der Spitzenkandidat der Grünen, Jürgen Trittin, fordert massive Steuererhöhungen – angeblich bis zu 50 Milliarden Euro – für die Zeit nach der Wahl. Ist das ein akzeptabler Weg aus der Krise?
MERKEL: Nein, die Steuererhöhungspläne der Opposition sind einfach nur einfallslos und verunsichern Menschen und Unternehmen. Die Pläne der Opposition treffen außerdem doch nicht nur die Wohlhabenden, sie treffen durch den Steuertarif vor allem auch Menschen mit mittlerem Einkommen. Das wäre grundfalsch, die CDU macht das deshalb auch nicht.
BUNTE: Ab sofort beginnt für Sie die heiße Phase des Wahlkampfs. Bis zum 22. September werden Sie zahllose Veranstaltungen besuchen, quer durch Deutschland reisen, immer wieder Reden halten. Gibt es so etwas wie Ihr persönliches Kraftmanagement?
MERKEL: Ich versuche, mir die Abfolge der Termine und die Zeit, die mir dazwischen bleibt, so einzuteilen, dass alles gut zu bewältigen ist. Mir macht Wahlkampf Freude. Deutschland ist so vielfältig und groß, überall treffe ich interessante Menschen.
BUNTE: Haben Sie noch Lampenfieber vor solchen Großkundgebungen?
MERKEL: Nein, aber eine gewisse notwendige Spannung, also Konzentration. Ich versuche ja, mich auf jedes Publikum einzustellen. Und weil bei mir als Bundeskanzlerin auf jedes Wort geachtet wird und sich jedes Wort rasend schnell verbreitet, sollte ich schon konzentriert sein.
BUNTE: Schlafen Sie in diesen Wochen gut? Oder dreht sich auch nachts noch das Gedankenkarussell – frei nach Heinrich Heine: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht ...“
MERKEL: Ich schlafe in der Regel gut. Natürlich denke ich abends oft noch über den zurückliegenden Tag nach, über Begegnungen oder noch zu lösende Probleme. Und vor dem Einschlafen mache ich mir noch mal klar, was am nächsten Tag auf mich zukommt, aber ansonsten kann ich dann auch abschalten.
BUNTE: Gibt es Bücher, die Sie zur Entspannung lesen?
MERKEL: Wenn es mal reine Entspannung sein soll, dann lese ich zum Beispiel gern Krimis. Auch das „Gardening Book“ von Michelle Obama habe ich mit Vergnügen gelesen. Es gibt ein Wort, das gerade in aller Munde ist: Entschleunigung! In einer immer hektischeren und vernetzten Welt suchen die Menschen nach Momenten der Stille. Wie „entschleunigt“ eine Bundeskanzlerin?
BUNTE: Gibt es überhaupt diesen Moment, in dem Sie sagen: „Diese wenigen Stunden gehören jetzt allein mir?“
MERKEL: Sicher kann ich da nie sein, weil ich als Bundeskanzlerin immer ansprechbar bin, falls etwas passiert oder entschieden werden muss. Aber an Sonntagen gibt es bei mir zu Hause in der Uckermark durchaus auch mal ruhige Stunden. Dann gehe ich erst einmal eine Runde durch meinen Garten und schaue, was sich dort getan hat.
BUNTE: Ist das ein Nutz- oder ein Ziergarten?
MERKEL: Dies und das, was nicht so viel Arbeit macht. Ein paar Blumen, Erdbeeren. Und meistens baue ich noch Kartoffeln an, die sind auch relativ pflegeleicht.
BUNTE: Die Bundeskanzlerin pflanzt selbst Kartoffeln?
MERKEL: Die kleinen Saatkartoffeln in die Erde zu setzen ist ja nicht so schwer. Und einmal Erde häufeln, das schaffe ich auch noch. Es ist ja nur eine kleine Fläche.
BUNTE: Sie haben einmal gesagt, dass Sie noch heute Kraft daraus ziehen, weil Sie auf dem Land aufgewachsen sind.
MERKEL: Vielleicht ist es wirklich so. Ich hatte jedenfalls als Kind so viel Ruhe um mich, dass ich davon bis heute zehre. Die Wochenendstunden auf dem Land sind mir sehr wichtig. Ich mag die Stille dort, das ist ein Quell der Kraft für mich.
BUNTE: Waren Sie denn ein stilles Kind?
MERKEL: Überhaupt nicht. Ich habe viel geplappert. Im Grundsatz rede ich auch heute gern, was mir in meinem Beruf durchaus entgegenkommt.
BUNTE: In einer Podiumsdiskussion haben Sie mal festgestellt, normaler Alltag sei für Sie der Ausnahmezustand. Gehen Sie noch manchmal um die Ecke in den Supermarkt, ins Kino oder Restaurant?
MERKEL: Ich gehe immer wieder einkaufen und werde dabei oft abgelichtet.
BUNTE: Sie wissen, was Butter kostet oder die Reinigung?
MERKEL: Ich achte darauf, dass ich noch zu allen Lebensfunktionen in der Lage bin.
BUNTE: ... unterstützt von Ihrem Mann?
MERKEL: Ja, natürlich!
BUNTE: Weiß Ihr Mann, was Sie tagsüber für Termine haben?
MERKEL: Er weiß, wann ich im Ausland bin oder abends Termine habe, ob ich spät oder gar nicht nach Hause komme. Und natürlich erzähle ich ihm, wenn eine besonders spannende Begegnung ansteht.
BUNTE: Und wissen Sie, woran Ihr Mann gerade forscht?
MERKEL: Er forscht über Katalysatoren. Ich weiß auch, wann er einen wichtigen Vortrag hält oder wann Prüfungen seiner Studenten anstehen.
BUNTE: Frau Bundeskanzlerin, haben Sie eigentlich schon früh gewusst, dass aus Ihrem
Leben etwas Besonderes werden soll?
MERKEL: Ich war eigentlich immer ein zufriedener Mensch, war neugierig, aber nach einem hohen Amt habe ich als junger Mensch überhaupt nicht gestrebt.
BUNTE: Gab es Momente in Ihrer Karriere, wo Sie gesagt haben: Ich will jetzt nicht mehr?
MERKEL: Nein. Und wenn etwas mal besonders mühselig war, dann hatte ich immer Mitarbeiter, die mich daran erinnerten, dass andere auch Geduld gebraucht haben, um politisch etwas durchzusetzen. Das Bohren dicker Bretter kann nun mal dauern. Ein gutes Team, Mitarbeiter, mit denen man vertrauensvoll zusammenarbeiten kann – dann geht vieles.
BUNTE: Sie sind gläubige Christin. Ist der Glaube für Sie eine Kraftquelle?
MERKEL: Ja, absolut.
BUNTE: Ihr Konfirmationsspruch heißt: „Nun aber bleiben Glauben, Hoffnung, Liebe – diese drei. Am größten aber ist die Liebe.“ Kann dem auch eine Politikerin zustimmen, gibt es im übertragenen Sinn auch Liebe in der Politik?
MERKEL: Ich verstehe Liebe in diesem Zusammenhang als Liebe zu den Menschen. Ja, die gibt es auch in der Politik. Es heißt zwar immer, Politik sei ein sehr hartes Geschäft, und das stimmt natürlich auch, aber es gibt auch tiefes Vertrauen zu Mitarbeitern, Freundschaft mit Kollegen. Und es gibt auch so etwas wie die Zuneigung zu den Menschen im Land. Meine politischen Entscheidungen haben ja oft Auswirkungen auf jeden Einzelnen und diese Menschen sind mir lieb in dem Sinne, dass ich weiß, wie einzigartig und wertvoll jeder ist. Ich habe große Achtung vor den unterschiedlichen Lebensleistungen der Bürger – das ist die Grundlage meines Handelns.