
- Bei Facebook teilen
- Bei Twitter teilen
- Bei Whatsapp teilen
- Per Messenger teilen

Heimat, Vaterland, Europa - Annegret Kramp-Karrenbauer über Helmut Kohl
Er war nicht nur Kanzler der Einheit, sondern ist auch der einzige Kanzler mit dem Titel „Ehrenbürger Europas“. All diese Verdienste waren hart erkämpft – mit Mut, Entschlossenheit und der Helmut Kohl eigenen Portion Gottvertrauen. Sein Vermächtnis bleibt Auftrag für die Zukunft. Ein Gastbeitrag unserer Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer für die FAZ.
Als ich 1981 in die CDU eintrat, da war Helmut Kohl seit acht Jahren Vorsitzender dieser Partei. Damals, vor 37 Jahren, ahnte ich nicht, dass er ein Jahr später deutscher Bundeskanzler werden würde; damals ahnte niemand, dass er weitere 17 Jahre Parteivorsitzender sein würde, dass er als Kanzler der Einheit in die Geschichte eingehen würde, dass er Europa einen und die Grenzen auf unserem Kontinent niederreißen würde, dass er sich höchstes Ansehen bei unseren amerikanischen Partnern und in aller Welt erwerben und als einziger Regierungschef den Titel „Ehrenbürger Europas“ verliehen bekommen würde. All das, was uns heute selbstverständlich erscheint, folgte keinem Automatismus. All das war hart erkämpft – mit Mut, Entschlossenheit und der Helmut Kohl eigenen Portion Gottvertrauen.
Als vor einem Jahr die Nachricht von Helmut Kohls Tod um die Welt ging, da gab es einen Moment des Innehaltens – für mich ganz persönlich und für die gesamte CDU Deutschlands. Es war auch ein Moment des Innehaltens in Deutschland, in Europa und in vielen Teilen der Welt. Da ist einer gegangen, der Großes geschaffen und vieles bewegt hat. Der Tod Helmut Kohls hat uns allen nochmals vor Augen geführt, was politische Schaffenskraft zu gestalten imstande ist.
Deutschland und Europa haben ihm viel zu verdanken. Aber wir werden Helmut Kohl und seiner historischen Leistung nicht gerecht, wenn wir es bei dankbarer Erinnerung belassen. Sein Vermächtnis ist und bleibt ein Auftrag für die Zukunft – ein Auftrag, der sich selbstverständlich an „seine“ CDU richtet, ein Auftrag, der sich aber auch an Deutschland und Europa richtet.
Für ein Europa, in dem es keinen deutschen Sonderweg gibt
Die Treue zu diesem Vermächtnis hat mich in den Tagen nach seinem Tod beschäftigt. Wozu treibt uns heute – unter ganz anderen Rahmenbedingungen – sein politisches Wirken an? Welche Orientierung bietet uns der Blick auf sein Leben? Welchen Halt kann uns die Erinnerung an Helmut Kohl in aufgewühlten Zeiten geben? Eine, wenn nicht die Antwort auf diese Fragen gab der Europäische Staatsakt am 1. Juli 2017 im Europäischen Parlament in Brüssel. Mitten im Plenarsaal stand der Sarg mit den sterblichen Überresten Helmut Kohls. Und auf dem Sarg lag die Europaflagge: zwölf goldene Sterne auf blauem Hintergrund.
Im Herzen Europas ergriffen direkt neben dem Sarg acht Redner das Wort. Da war unsere Bundeskanzlerin, die Regierungschefin des Heimatlandes Helmut Kohls, das für ihn immer Bezugspunkt seines politischen Handelns war. Da waren die Vertreter der Europäischen Institutionen: der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker aus unserem Nachbarland Luxemburg, der Parlamentspräsident Antonio Tajani aus Italien, einem der Gründungsstaaten der Europäischen Union. Und der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk aus Polen, das 2004 mit anderen mittel- und osteuropäischen Staaten Mitglied der EU wurde. Es sprachen der frühere spanische Ministerpräsident Felipe González und der amtierende französische Staatspräsident Emmanuel Macron.
Europa war hier mit Händen zu greifen: sogenannte kleine und große Länder, die Gemeinschaftsinstitutionen genauso wie die Regierungen der Mitgliedstaaten, Gründungsmitglieder und junge Mitglieder. An Helmut Kohls Sarg wurde sichtbar, für welches Europa er förmlich gebrannt hat: für ein Europa der Gemeinsamkeiten, für ein Europa des Miteinanders, für ein Europa der Geschlossenheit, für ein Europa, in dem sich die Interessen unseres deutschen Vaterlandes verwirklichen, für ein Europa, in dem es keinen deutschen Sonderweg gibt.
Die Freundschaft zwischen Europa und Amerika geht über Interessenpolitik hinaus
Beim europäischen Staatsakt sprach auch der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Bill Clinton. Helmut Kohl war Transatlantiker durch und durch. Sein Traum von einem geeinten Europa war nie nur ein Traum von einem Europa in Frieden. Es war immer auch ein Traum von einem Europa in Freiheit. Dass dieser Traum Realität werden konnte, das haben wir Europäer auch unseren amerikanischen Freunden zu verdanken.
Denn mit ihnen gemeinsam bildete das freie Europa den Gegenpol zur unfreien, autoritären und antidemokratischen Sphäre des Warschauer Paktes. Die Stärke des freien Westens war für Helmut Kohl in der Tradition Konrad Adenauers der Garant für die Freiheit der Bundesrepublik; und sie war die Voraussetzung dafür, dass die herbeigesehnte Deutsche Einheit und die Europäische Einigung nicht irgendwie, sondern in echter Freiheit für die Menschen kommen würden.
Das transatlantische Verhältnis, das Wertefundament der freien Welt, die tiefe Freundschaft zwischen Europa und Amerika – all das geht weit über reine Interessenpolitik, über geübte internationale Zusammenarbeit hinaus. Das transatlantische Verhältnis geht tiefer – es ist getragen von gemeinsamen Werten, die so stark und so attraktiv für Millionen Menschen auf der Welt sind, als dass es durch einzelne Regierungen und Administrationen in seinen Grundfesten erschüttert werden könnte.
Geschlossenheit führte zu einem Wandel in der Sowjetunion
Helmut Kohl wusste um die Besonderheit und den Schatz des transatlantischen Verhältnisses, er wusste um die Notwendigkeit der Stärke der freien Welt, er wusste um das historische Verdienst der Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik und Westeuropa nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges nicht alleingelassen zu haben. Diese Geschlossenheit im transatlantischen Bündnis hat schließlich den größten Glücksfall der deutschen Geschichte – die Einheit unserer Nation in Frieden und Freiheit – erst möglich gemacht. Denn diese Geschlossenheit führte zu einem Wandel in der Sowjetunion, für die beispielhaft Michail Gorbatschow steht.
Wie schon Konrad Adenauer wusste auch Helmut Kohl: Wir wollen den Dialog mit Russland. Wir wollen die Zusammenarbeit mit Russland. Aber nicht um den Preis der Selbstaufgabe unserer Werte, nicht um den Preis der Aufgabe von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Diese Überzeugung teilte Helmut Kohl im Übrigen mit Willy Brandt, auf den sich heute viele gerne, aber häufig in unzutreffender Weise berufen.
Die Entfremdung zwischen Willy Brandt und seiner SPD entstand gerade durch die Bereitschaft von sozialdemokratischen Führungsleuten, eine Annäherung an die kommunistischen Machthaber anzustreben und dabei Fragen von Freiheit, von Menschenrechten und von Demokratie auszuklammern. Wer heute den fraglos nötigen Dialog mit Russland nicht aus der Perspektive europäischer Sicherheitsinteressen und unserer freiheitlichen Werte sucht, wer lediglich ökonomische Interessen ins Feld führt, der kann sich auf vieles berufen, nicht aber auf die Ostpolitik Willy Brandts und schon gar nicht auf die historischen Verdienste Helmut Kohls für die Beziehungen zu Russland.
Diese Verdienste wurden beim Europäischen Staatsakt für Helmut Kohl in der Rede des russischen Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew sichtbar. Der Staatsakt machte damit ganz im Sinne Helmut Kohls deutlich, dass Europa auch heute ein eminentes Interesse an einem Dialog mit Russland hat. Ja, Europa wird immer bereit sein, die ausgestreckte Hand zu ergreifen.
Europa darf sich keinen Illusionen hingeben
Das kann aber nur funktionieren, wenn es keine zur Faust geballte Hand ist. Und da darf sich Europa keinen Illusionen hingeben. Wenn Russland den permanenten Bruch des Völkerrechts in der Ukraine zur Staatsdoktrin erhebt, wenn es nachweislich Bestrebungen gibt, Europa zu destabilisieren, wenn russische Desinformationskampagnen an der Tagesordnung sind, wenn russischer Einfluss in Kriegsgebieten wie in Syrien unseren Sicherheitsinteressen zuwiderläuft, wenn die baltischen EU-Mitglieder angesichts russischer Aktionen an unserer gemeinsamen europäischen Außengrenze Sorgen haben, dann kann der Dialog mit Russland das nicht alles ausblenden.
Im Gegenteil: Helmut Kohl würde heute genauso wie die Bundeskanzlerin immer wieder das Gespräch suchen und gleichzeitig die Probleme klar und deutlich benennen. Da kann es nicht um Kurzfristigkeit und Aktionismus gehen. Unsere Werte, unsere Freiheit und unsere Sicherheit erfordern bisweilen einen langen Atem, und sie erfordern Standfestigkeit. Das ist das Prinzip der aktuellen Sanktionen.Und das war das Prinzip, das für Helmut Kohl hinter dem Nato-Doppelbeschluss stand.
Die Geschichte hat Helmut Kohl recht gegeben. Sein klarer Kompass erlaubte ihm, massive Widerstände zu überwinden. Das muss auch heute die Richtschnur unseres Handelns sein. Wir dürfen unsere Werte und Sicherheitsinteressen nicht auf dem Altar ökonomischer oder kurzfristiger Interessen opfern. Das schließt Dialog nicht aus, das gibt dem Dialog aber Richtung.
Welche Rolle will Deutschland einnehmen?
Deshalb kann es auch keine Äquidistanz zum heutigen Russland und den Vereinigten Staaten geben – bei allen Problemen, die wir aktuell mit Washington haben. Denn das gemeinsame Wertefundament schafft einen qualitativen Unterschied. Die Vereinigten Staaten sind eine lebendige Demokratie, kritische Journalisten werden nicht inhaftiert. Es gibt eine starke Opposition, die nicht in ihren Rechten beschnitten wird. Die Vereinigten Staaten verfügen über eine demokratische Tradition und über demokratische Institutionen, die dreimal so alt sind wie die demokratischen Institutionen der Bundesrepublik.
Es ist bedauerlich, dass die aktuelle Auseinandersetzung mit der Person Donald Trump hierzulande den Blick auf diese Werteverbundenheit mit den Vereinigten Staaten zu verdecken droht. Helmut Kohls unverbrüchliche Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten kann und muss uns Ansporn sein, die Maßstäbe unserer Bewertung ins rechte Lot zu bringen.
Und dennoch: Wir spüren, dass altvertraute Ordnungen Risse bekommen. Wir spüren, dass sich in einer zunehmend globalisierten Welt die Kräfteverhältnisse neu ordnen. Welche Rolle will und kann Deutschland in dieser Ordnung einnehmen? Helmut Kohls Antwort wäre eindeutig: konsequent und unermüdlich für ein starkes, geschlossenes und entschlossenes Europa eintreten.
Europa muss sich wie ein globaler Akteur verhalten
Wenn Europa im neuen Kräfteverhältnis nicht zerrieben werden will – jeden europäischen Staat für sich alleine würde dieses Schicksal unweigerlich ereilen –, dann muss Europa sich selbst behaupten und einsehen, dass wir nicht wie in den vergangenen Jahrzehnten einfach im Geleitzug anderer mitfahren können. Diesen Geleitzug gibt es so nicht mehr. Europa muss – wie es unsere Bundeskanzlerin formulierte – sein Schicksal stärker in die eigene Hand nehmen: Will Europa ein globaler Akteur sein, dann muss sich Europa auch wie ein globaler Akteur verhalten.
Diese Erkenntnis verbindet das Eintreten der CDU für ein Europa der Sicherheit mit dem europapolitischen Vermächtnis von Helmut Kohl. Für ihn gab es stets eine zweifache Loyalität: Die erste Loyalität galt Deutschland, die zweite Europa. Ein gemeinsames und handlungsfähiges Europa braucht dieses Loyalitätsverständnis jedes einzelnen Mitgliedstaates.
Es geht um gegenseitige Loyalität in Europa. Das sollte nationale Alleingänge zu Lasten anderer europäischer Staaten ausschließen. Das muss unser gemeinsames Grundprinzip in Europa sein, ganz besonders angesichts aktueller Herausforderungen: beim Kampf gegen den Terrorismus, im Klimaschutz, in der gemeinsamen Entwicklungshilfe, bei den außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen, in der Asyl- und Migrationspolitik, zum Schutz der EU-Außengrenzen.
Europa hat es in der Hand
Wahrscheinlich hätte Helmut Kohl nie zu träumen gewagt, dass er selbst einmal Wegbereiter eines Europas der offenen Grenzen sein würde. Jahrzehntelang war der Kontinent durch eine schier unüberwindlich scheinende Grenze gespalten. Aber auch die Grenzen in Westeuropa waren gesichert mit Grenzhäuschen und Schlagbäumen. Das geeinte Europa ohne Grenzen ist ein wahr gewordener Traum – ein Traum, der uns auch heute ein zu hütender Schatz sein muss.
Was Europa zur Bewahrung dieses Traums versäumt hat, ist der effektive Schutz der Außengrenzen. Wir holen das derzeit nach. Dabei stehen in der historischen Pflicht, hier endlich voranzukommen – und zwar gemeinsam. Helmut Kohl hätte alles unternommen, um die Errungenschaft der offenen Grenzen zu verteidigen – immer in gegenseitiger Loyalität aller Europäer. Diesen Weg entschlossen weiterzugehen, das ist nicht nur unsere Pflicht gegenüber dem Vermächtnis Helmut Kohls, das ist vor allem unsere Pflicht gegenüber unseren Kindern und Enkeln. Europa hat es in der Hand, wir haben es in der Hand: gemeinsam an einem Europa zu bauen, das das Sicherheitsversprechen einlöst, das es seinen Bürgerinnen und Bürgern gegeben hat.
Als sich am 1. Juli 2017 Trauergäste aus aller Welt um den Sarg Helmut Kohls im Europäischen Parlament versammelten, da wurde dies alles spürbar. Dieser Europäische Staatsakt zeigte wie in einem Brennglas, vor welchen Herausforderungen die heutige Generation politischer Entscheidungsträger steht. Es sind andere Herausforderungen als die, vor denen Helmut Kohl stand. Aber es ist der gleiche Kompass, der uns dabei hilft, den richtigen Weg zu finden und die richtigen Entscheidungen zu treffen. „Transatlantisch bleiben, europäischer werden!“ – so kann man das Vermächtnis Helmut Kohls für unsere Generation beschreiben.
Ein geeintes, freies und starkes Europa
Ich möchte ihn selbst zu Wort kommen lassen: „Wir werden aber unsere Ziele nur erreichen können, wenn wir die Fundamente unseres Erfolges nicht in Vergessenheit geraten lassen. Wer das Atlantische Bündnis, wer die Europäische Gemeinschaft und die Freundschaft mit den USA, wer die Freundschaft mit Frankreich jetzt vernachlässigt oder gar für überflüssig hält, zerstört am Ende die Chance, dass unsere Visionen eines Tages Wirklichkeit werden können.“ Und in derselben Rede fragt er: „Was kann den Frieden und die Freiheit unseres Vaterlandes dauerhafter sichern als ein geeintes, freies und starkes Europa? Sind wir uns eigentlich noch der Größe dieser Aufgabe bewusst? Sind wir nicht dabei, im Alltag der Europapolitik, des kleinlichen Streits über die Kommission in Brüssel, das große Ziel aus den Augen zu verlieren? Müssen wir nicht wieder lernen zu begreifen, welch ein Juwel wir hier in der Hand haben?“ Was für eine Aktualität, was für ein Vermächtnis, was für ein Auftrag!
Die beiden Zitate stammen aus der Rede Helmut Kohls auf dem legendären Bundesparteitag der CDU im September 1989 in Bremen. Er hielt sie wenige Stunden nachdem Ungarn die Grenze für DDR-Flüchtlinge geöffnet hatte. Ich bin im vergangenen Jahr auf diese Rede gestoßen. Nachdem wir im Juni 2017 Abschied nehmen mussten von Helmut Kohl, erreichte uns im September die Nachricht vom Tod Heiner Geißlers. Kohl und Geißler – das war ein kongeniales Team. Gemeinsam modernisierten sie die CDU, gemeinsam schärften sie das programmatische Profil der CDU, gemeinsam schlugen sie erfolgreich Schlachten. Beide hatten für mich und mein Engagement in der CDU große Bedeutung und großen Einfluss.
Der Tod dieser zwei christdemokratischen Ausnahmepolitiker im vergangenen Jahr ließ mich zum Protokoll dieses Parteitages greifen. Ich wollte mir selbst noch mal die Zeit vor Augen führen und mit meinen Erinnerungen vergleichen. Bei der Lektüre der Rede Kohls stockte mir tatsächlich ein ums andere Mal der Atem: Wie aktuell vieles war, wie wenig sich manches trotz rasanter Entwicklungen verändert hat, wie weitsichtig manche Passage war, wie viel Orientierung manche Bemerkung auch für die aktuelle Politik stiften kann!
„Heimat, Vaterland, Europa – das ist der Dreiklang, um den es geht.“
Das gilt für seine Bemerkungen über die Visionen von der Einheit Europas in Frieden und Freiheit, das gilt für seine klare transatlantische Orientierung, das gilt für sein Wissen um eine wachsende Verantwortung Deutschlands in der Welt. Besonders beachtlich fand ich die Parallelität zu heute, was die Erfahrung rasanter Veränderung anbelangt: „In einer Zeit raschen Wandels suchen die Menschen nach Orientierung. Sie brauchen die Erfahrung des Vertrauten, der Geborgenheit und die Erfahrung von Heimat.
Als wir vor ein paar Jahren von Heimat sprachen, galten wir als die Ewiggestrigen. Es ist unübersehbar: Dieses Europa, wie wir es wünschen, wird nur bestehen können, wenn wir in unserer Heimat verwurzelt, ja sagen zum deutschen Vaterland und ja sagen zu Europa. Heimat, Vaterland, Europa – das ist der Dreiklang, um den es geht.“ Diese Sätze sind nun fast 30 Jahre alt; sie sind heute vielleicht aktueller denn je. Denn in der Tat geht es auch heute darum, Orientierung, Vertrauen und Geborgenheit zu stiften.
Interessant und hochaktuell sind auch Helmut Kohls Bemerkungen über die Lage der CDU: „Wir alle spüren: Unsere Volkspartei CDU steht vor einer neuartigen Herausforderung...: Die politische Landschaft ist in Bewegung gekommen. Die großen Volksparteien ...haben bei Wahlen an Vertrauen verloren. Radikale Parteien am linken und am rechten Rand des politischen Spektrums sind gestärkt worden. Wir sollten uns hüten, diese Entwicklung mit einfachen, holzschnittartigen Antworten erklären zu wollen.
Wir haben Grund zur Nachdenklichkeit
Die Ursachen sind in Wahrheit vielschichtig. Der rasche Wandel bei uns in der Bundesrepublik Deutschland und in der Welt schafft zunehmend Unsicherheiten und Ängste. Traditionelle Bindungen...lockern sich, und in gleichem Maße gewinnen kurzfristige – oft opportunistische – rasch wechselnde Stimmungen Einfluss auch auf das Wahlverhalten. Hinzu kommt eine problematische Seite unseres Wohlstandes. Den allermeisten Menschen in der Bundesrepublik geht es gut; trotzdem – vielleicht auch deswegen – wächst der Egoismus einzelner Gruppen und Personen in unserer Gesellschaft.
Ich frage mich aber dennoch: Muss es wirklich so sein, dass Wohlstand der Übergang von der Armut zur Unzufriedenheit sei – wie Zyniker behaupten? Wir müssen – ob es uns passt oder nicht – zur Kenntnis nehmen, dass bei einem Teil unserer Bevölkerung auch Verdrossenheit im Spiel ist – Verdrossenheit nicht gegenüber der freiheitlichen Demokratie, aber Ärger über die Parteien und ihr Erscheinungsbild. Wir müssen uns selbstkritisch fragen, ob wir uns immer Zeit genug genommen haben, mit den Menschen zu sprechen, ob sich Politik nicht auch bei uns zu oft als geschlossene Veranstaltung präsentiert.
Viele haben manchmal zu Recht, manchmal auch zu Unrecht das Gefühl, dass ihre Sorgen von den Politikern nicht genügend zur Kenntnis genommen werden. Alle Volksparteien – auch wir – haben Grund zur Nachdenklichkeit. Ich sage aber... bewusst ‚Nachdenklichkeit‘ und nicht ‚Verzagtheit‘. Denn manche – auch bei uns – starren auf diese Veränderungen wie gelähmt. Sie verlieren dabei den Blick für die Realitäten. Und nicht wenige tragen unbewusst oder auch bewusst zur Übellaunigkeit bei.“
Der Status einer Volkspartei muss immer neu erkämpft
Helmut Kohl beschreibt hier den immerwährenden Auftrag an Volksparteien. Volkspartei ist man nicht qua Parteitagsbeschluss. Der Status einer Volkspartei muss immer neu erkämpft werden: Dazu zählen Erneuerung, programmatische Weiterentwicklung, Veränderungsbereitschaft, Neugier und Offenheit. Zum Leidwesen Helmut Kohls musste er in seiner Partei auch Gegenteiliges beobachten: „Während viele unserer Freunde in den Kreis- und Ortsverbänden harte politische Auseinandersetzungen führen, gibt es andere, die nur bedenklich den Kopf wiegen und sich in der Rolle des Schwarzmalers gefallen. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn sie dies für sich persönlich tun. Sie verlieren dann ein Stück Lebensfreude, und dies geschieht ihnen dann auch recht. Wenn sie es aber öffentlich tun, ist das ein Skandal für die Partei.“
Nun muss nicht jedes kritische Wort ein Skandal sein. Aber starke Volkspartei der Mitte ist man, wenn die Leute anpacken und nicht nörgeln, wenn man engagiert Probleme löst und sie nicht nur missmutig beschreibt. Diese Tatkraft, diese Gestaltungsfreude, diese Leidenschaft im Eintreten für etwas und nicht gegen etwas – all das macht Volkspartei aus, all das muss auch heute die CDU leiten, wenn sie in der Tradition Helmut Kohls die starke Volkspartei der Mitte sein will.
Helmut Kohl kleidet diesen Anspruch in die Worte: „Eine politische Partei ist politische Gemeinschaft, ist politische Heimat; es kann dort keine Arbeitsteilung in dem Sinne geben, dass die einen in der Loge sitzen und beobachten, wie sich die anderen auf der Bühne tummeln. Letzteres kann man tun, aber dann werden wir am Ende alle in der Loge sitzen und nichts mehr zu sagen haben.“
Unser christliches Verständnis von Mensch und Schöpfung
Um etwas auf der Bühne zu sagen zu haben, braucht die CDU eine Haltung, ein gemeinsames Fundament, ein gemeinsames Selbstverständnis, einen Kompass, der Orientierung bietet. Ein letztes Mal zitiere ich aus Helmut Kohls Bremer Rede: „Ich bin sicher: Nur die Union aus CDU und CSU ist in der Lage, diese großen Herausforderungen zu bestehen. Nur wir – als die große Volkspartei der Mitte – sind fähig, divergierende Interessen zusammenzuführen. Nur wir können die Kräfte des Erneuerns und des Bewahrens in unserer Gesellschaft auf schöpferische Weise zum Ausgleich bringen...Wir haben vor allem einen zuverlässigen Kompass: das ist unser christliches Verständnis von Mensch und Schöpfung.
Es nimmt uns in einer besonderen Weise in die Pflicht...Das ‚C‘ im Namen unserer Partei drückt aus, was uns verbindet. Es beschreibt das sittliche Fundament, auf dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und aus den verschiedensten Berufen in unserer Volkspartei CDU zusammenfinden. Konservative ebenso wie liberale und christlich-sozial engagierte Menschen treffen sich hier in einer gemeinsamen Überzeugung. Erst dieses Zusammenwirken...prägt das unverwechselbare Profil unserer Partei...Auf dem Weg zu einer Gesellschaft des menschlichen Miteinanders ist heute mehr denn je das christliche Menschenbild ein unverzichtbarer Wegweiser.“
Welch hochaktuelles Vermächtnis für alle diejenigen von uns, die heute Verantwortung in der CDU tragen! Welch bleibender Anspruch für eine Partei, die sich seit über 70 Jahren in den Dienst unseres Landes stellt! Welch Orientierung stiftender Kompass in einer unruhigen Zeit!
Die Christdemokratie wird Kohl ein Andenken bewahren
Helmut Kohl hat uns unendlich viel hinterlassen: ein geeintes Deutschland in einem geeinten Europa. Lag auf seinem Sarg im Europäischen Parlament noch die Europaflagge, so lag wenige Stunden später während des Requiems im Speyerer Dom die Deutschlandflagge auf dem Sarg. Es kann kaum einen sinnbildlicheren Ausdruck für Helmut Kohls politisches Wirken geben. Aber er hinterlässt uns nicht nur politische Errungenschaften.
Er hinterlässt uns eine hochaktuelle Botschaft, er hinterlässt uns Orientierung, er hinterlässt uns eine Haltung. Deshalb gilt für mich nicht nur an seinem ersten Todestag, sondern auch für die Zukunft: Die deutsche Christdemokratie wird Helmut Kohl ein ehrendes Andenken bewahren. Vor allem aber wird die deutsche Christdemokratie dieses Andenken dadurch ehren, dass wir auch weiterhin mit Tatkraft, Mut, Haltung, Orientierung und Gottvertrauen an einer guten Zukunft bauen: für unsere Heimat, für unser Vaterland, für unser Europa.