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Paul Ziemiak: Mut zur Freiheit
Ich wurde 1985 in Stettin geboren. Als Kind kam ich mit meiner Familie nach Deutschland. Das ist meine Geschichte, das ist meine Identität. Aber ist das überhaupt eine Identität oder sind das vielleicht zwei Identitäten? Offen gestanden spielt diese Frage in meinem Alltag häufig keine Rolle. Aber es gibt diese Momente, in denen es dann vielleicht doch nicht so einfach ist.
Wenn sich am Sonntag der Überfall Deutschlands auf Polen zum achtzigsten Mal jährt, dann ist das ein solcher Moment. In jeder polnischen Familie gibt es die Erinnerungen an das unglaubliche Leid, die unzähligen Opfer, die Trauer und Verzweiflung während der Willkürherrschaft und während des menschenverachtenden Krieges – so auch in meiner Familie. Diese Erinnerung meiner polnischen Identität vermischt sich mit der deutschen Erinnerung an das unermessliche Leid, das von deutschem Boden nicht nur über Polen, sondern insbesondere auch über das jüdische Volk, über ganz Europa und über die menschliche Zivilisation insgesamt gekommen ist.
Wie verträgt sich eine solche vermischte Identität? Wie kann man damit umgehen? Für mich entsteht aus der Erinnerung an unermessliches Leid und aus der besonderen deutschen Verantwortung etwas Neues, etwas Konstruktives, etwas Zusammenführendes. Dieses Neue drückt sich aus im Mut zur Freiheit.
Wenn ich über den Mut der Polen zur Freiheit spreche, dann umfasst das weit mehr als die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg; dann umfasst das die jahrhundertealte Erfahrung, als polnische Nation Spielball europäischer Großmächte gewesen zu sein. Hieraus entsteht für mich mit meiner polnischen Familiengeschichte ein besonderes Verhältnis zur Freiheit.
Dieser Mut zur Freiheit gipfelte vor 75 Jahren im Warschauer Aufstand. Mutige Polen unternahmen den Versuch, sich und ihr Land von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu befreien. Dieser Aufstand mag für manche wie eine verzweifelte Tat wirken. Aber es war nicht nur die pure Verzweiflung, die sie antrieb, sondern der unbändige Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. 63 Tage dauerte der Aufstand. Das nationalsozialistische Morden und Wüten dauerte noch neun Monate – aber die Erinnerung an den Mut der Polen vor 75 Jahren bleibt für immer unvergessen.
Wenn ich als Deutscher über den Mut zur Freiheit spreche, dann blicke ich natürlich auf den 8. Mai 1945, der zu recht auch als Tag der Befreiung bezeichnet wird – auch wenn dieser Tag für Deutsche wie für Polen nicht nur Befreiung sondern neues Leid und neues Unrecht bedeutete.
In den westlichen Besatzungszonen Deutschlands barg die Befreiung die Chance, mit dem Mut vieler Frauen und Männer etwas Neues aufzubauen. Wir feiern in diesem Jahr den 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes und damit eine Verfassung, die ein beeindruckendes Dokument des Muts zur Freiheit bis heute bildet.
Mit dem polnischen Teil meiner Identität schaue ich aber etwas anders auf das Ende des Krieges. Zwar wurde auch Polen von der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft befreit. Aber diese Befreiung bedeutete für die Polen nicht Freiheit. Diese Befreiung führte nicht zu einem unabhängigen Staat, führte nicht zu Selbstbestimmung, zu Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit. Dafür brauchte es nochmals über 40 Jahre. Das Leid des polnischen Volkes ging weiter.
Ich kann nicht an den Mut zur Freiheit denken, ohne auch an die Ereignisse vor 30 Jahren zu denken. In Deutschland erinnern wir uns dabei an den Fall der Berliner Mauer. Aber wir denken auch an die Solidarnosc-Bewegung in Polen, die mit Mut und mit Freiheitsdrang den Wandel in den Staaten des Warschauer Paktes erst möglich gemacht hat. Ich denke an meinen polnischen Landsmann Karol Wojtyla, den späteren Papst Johannes Paul II., der vielen Menschen hinter dem Eisernen Vorhang Hoffnung geschenkt hat. Ich denke auch an Helmut Kohl, der – fast schon eine Fügung des Schicksals – zum Zeitpunkt des Mauerfalls zu einem Staatsbesuch in Polen weilte.
Heute sind Deutschland und Polen gemeinsam Teil eines freien, demokratischen und rechtsstaatlichen Europas. Deutschland und Polen sind nicht nur Partner, sie sind Freunde. Das ist für mich ganz persönlich nach wie vor eines der schönsten Geschenke der Geschichte. Und dieses Band zwischen unseren Ländern ist so fest, dass wir auch offen miteinander sprechen, wenn es Meinungsunterschiede gibt. Niemals mehr darf es zu Sprachlosigkeit zwischen unseren Ländern kommen; niemals mehr dürfen wir uns von außen oder von innen auseinanderdividieren lassen. Viele beschwören immer wieder die Bedeutung der Achse Berlin-Paris für die Stabilität Europas. Aber für mich ist im Bewusstsein der Geschichte klar: Europa kann niemals geeint sein ohne ein festes Band der Freundschaft zwischen Deutschen und Polen. Die Einheit der Europäischen Union gibt es nicht ohne die enge Beziehung zwischen Deutschland und Polen.
Der Mut zur Freiheit verbindet uns; der Mut zur Freiheit ist die Klammer zwischen meiner deutschen und meiner polnischen Identität. Aber das Entscheidende für mich heute ist: Dieser Mut zur Freiheit wird zwar in der Geschichte sichtbar, aber er muss vor allem in der Gegenwart und Zukunft spürbar werden. Dazu gehört, einen klaren Blick darauf zu lenken, wo unsere Freiheit bedroht ist. Sie ist in Europa bedroht von Innen – da wo das gemeinsame europäische Haus durch Populisten von links wie rechts infrage gestellt wird.
Und unsere Freiheit wird von außen bedroht. Mut zur Freiheit heißt, den Mut zu haben, die Freiheit zu verteidigen. Deshalb muss die NATO handlungsfähig sein. Leider hat heute noch nicht jeder Politiker verstanden, wie wichtig es ist, in unsere Verteidigung zu investieren und unsere Soldatinnen und Soldaten vernünftig auszustatten. Allzu oft wird unsere Verteidigungsfähigkeit auch mit dem Argument untergraben, wir seien nur noch von Freunden umgeben. Aber zur Wahrheit gehört: Für unsere Freunde gilt dieses Argument nicht! Gerade die Polen haben ein sehr feines Gespür dafür, wenn sich andere auf Kosten ihrer Sicherheit ihrer Verantwortung entziehen – der Blick ins Geschichtsbuch könnte ein Bewusstsein für dieses polnische Gespür schaffen. Umso wichtiger ist es, dass auch wir Deutsche den Mut zur Freiheit mit einem klaren Bekenntnis zu den Sicherheits- und Freiheitsinteressen unserer Bündnispartner untermauern.
Deutsche und Polen sind heute Partner, sie sind Verbündete, sie sind Freunde. Uns verbindet eine gemeinsame Geschichte, auf die wir aus unterschiedlicher Perspektive blicken. Und ohne Frage gibt es auch Meinungsverschiedenheiten. Ich bin ein Gegner davon, solche Meinungsverschiedenheiten auszublenden. Im Gegenteil – wir sind es unserer Freundschaft schuldig, diese Meinungsverschiedenheiten im Respekt voreinander, aber klar und deutlich auszutragen. Aber: Dabei dürfen wir niemals unser gemeinsames Fundament verlassen. Und dieses Fundament ist der Mut zur Freiheit. Das eint uns mehr, als uns alle Meinungsverschiedenheiten trennen könnten.
Als gebürtiger Pole und deutscher Politiker ist mir dieses gemeinsame Fundament ein Herzensanliegen. Ein großer Wunsch ist es, dass meine Kinder einmal selbst auf ihre Identität blicken und sagen: „Wir haben deutsche und polnische Wurzeln. Und aus diesen Wurzeln ziehen wir für unser Leben Mut zur Freiheit.“ Wenn dies aus zwei nationalen Identitäten entstehen kann, dann ist mir um die Zukunft und um unsere Freiheit nicht bange.
In diesem Bewusstsein bin ich Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Als frei gewählter Vertreter des deutschen Volkes habe ich die Ehre, in Berlin im Reichstagsgebäude meinem Land dienen zu dürfen. Wenn ich dort im Plenarsaal sitze, dann sitze ich in dem Raum, in dem die Nationalsozialisten ihre Angriffe auf Demokratie und Freiheit in das Parlament getragen haben; dann sitze ich in dem Saal, aus dem heraus die Machtergreifung Hitlers auf vermeintlich parlamentarische Weise organisiert wurde. Wenn ich heute als Abgeordneter eines freien Deutschlands in diesem Saal sitze, links und rechts vom Rednerpult die deutsche und die europäische Flagge sehe, dann denke ich auch an den Teil meiner Vorfahren, die – zum Teil damals jünger als ich heute – unter der nationalsozialistischen Willkürherrschaft gelitten und gegen sie gekämpft haben; einer Willkürherrschaft, die sich in diesem Saal zu legitimieren versuchte. Wenn ich in diesem Saal sitze, dann denke ich immer wieder an die großen Worte Richard von Weizsäckers: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, der wird blind für die Gegenwart."
Der Artikel erschien am 29.08.2019 in der Welt.