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Paul Ziemiak und Rabbiner Yehuda Teichtal im Doppelinterview mit der Zeitung "Die WELT"
WELT: Herr Rabbiner Teichtal, hat Deutschland ein Antisemitismusproblem?
Teichtal: Ja, ein ganz großes. Antisemitismus hat in Deutschland immer geschwelt, in den vergangenen Jahren ist er, auch durch den Aufstieg der AfD und die Zuwanderung aus muslimischen Ländern, wieder offen zu Tage getreten.
WELT: Herr Ziemiak, teilen Sie die Ansicht von Rabbiner Teichtal?
Ziemiak: Ja! Dass wir immer noch über die Frage diskutieren, ob wir denn nun ein Antisemitismusproblem haben oder nicht, ist ein Teil des Problems. Antisemitische Taten haben in Deutschland zugenommen, Juden werden auf offener Straße attackiert, jüdische Friedhöfe geschändet und Synagogen angegriffen. Über diesen alltäglichen Antisemitismus haben wir als Gesellschaft aber auch als Politik zu oft hinweggesehen. Durch das furchtbare Attentat von Halle ist das Thema jetzt wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Und dort muss es auch bleiben.
WELT: Nach Halle hat die deutsche Politik ein „nie wieder“ versprochen. Wird es ein „nie wieder“ geben?
Ziemiak: Das muss unser Anspruch sein. Aber zu glauben, die Frage des Antisemitismus könne nur durch gutgemeinte Reden oder einen Beschluss im Deutschen Bundestag gelöst werden, ist naiv.
Teichtal: Der Tod zweier Menschen in Halle durch einen von Hass getriebenen Mörder ist ein ganz, ganz, ganz großer Schmerz. Das Leben aller Menschen ist heilig, egal welcher Religion sie angehören. Ich habe mit meiner Gemeinde mit 600 Menschen in Berlin den Jom-Kippur-Gottesdienst gefeiert, als ein Polizist zu uns in die Synagoge kam und mich informierte, dass in Halle etwas passiert sei. Ich machte mir große Sorgen, weil einige Mitglieder unserer Gemeinde nach Halle gefahren waren, um die Gemeinde dort zu unterstützen. Der Vorbeter dort war mal einer meiner Schüler. Den Gemeindevorsitzenden kenne ich auch seit vielen Jahren. Der Gottesdienst am Jom Kippur dauert den ganzen Tag. Erst in der Pause, so um 15.30 Uhr, 16.00 Uhr haben wir Details erfahren. Da haben wir dann gemeinsam gebetet.
WELT: Was haben Sie gebetet?
Teichtal: Den 20. Psalm, einen Psalm Davids. Ein besonderes Gebet, das man in Notlagen spricht, bei Schicksalsschlägen. So haben wie einerseits die große Trauer über die Getöteten ausgedrückt, aber gleichzeitig die große Dankbarkeit für das Wunder, das nicht noch mehr Menschen ums Leben gekommen sind. Dass der Täter seine schlimmen Pläne nicht ganz erfüllen konnte.
WELT: Als Reaktion auf das Attentat ist vor allem über Sicherheitsmaßnahmen gesprochen worden. Ist das nicht ein etwas begrenzter Ansatz?
Ziemiak: Der Schutz von Synagogen und jüdischen Einrichtungen ist absolut wichtig und es ist gut, dass die Sicherheitsbehörden sich kümmern. Die Landeskriminalämter und das Bundeskriminalamt haben alle jüdischen Einrichtungen erneut überprüft und den Objektschutz verbessert. Aber damit bekämpft man nicht die Ursache des Problems. Zum einen müssen wir uns fragen, was die Sicherheitsbehörden brauchen, um die Netzwerke zu bekämpfen, aus denen solche Täter kommen. Da geht es um die technische Überwachung und die notwendigen Schaffung weiterer rechtlicher Grundlagen. Es geht um das Vorgehen gegen Gruppen, die sich zunehmend radikalisieren, um antisemitische Bewegungen wie jene zum Boykott israelischer Produkte oder um rechtsradikale Netzwerke. Wir müssen aber auch die Prävention verbessern. Wir brauchen beispielsweise Programme zur Sensibilisierung und Fortbildung von Lehrern. Und schließlich braucht es eine breite gesellschaftliche Debatte. Wir benötigen alle diese Elemente zugleich. Nur so können wir erreichen, dass sich die Situation in Deutschland nicht verschlechtert.
Teichtal: Es heißt immer wieder, da seien Einzeltäter am Werk. So war es auch in Halle. Das stimmt einerseits, und andererseits stimmt es nicht. Denn die Quelle des Hasses sind häufig die immer gleichen Blogger im Internet. Die müssen strafrechtlich verfolgt werden. Im Bildungsbereich könnte die Politik auch noch mehr machen. Ich spreche oft mit Lehrerinnen und Lehrern. Viele wissen nicht, wie sie mit Antisemitismus an der Schule umgehen sollen. Wir sollten Lehrende auf allen Ebenen – an Schulen, Hochschulen, Universitäten – befähigen, Zeichen zu setzen. Zu erkennen, dass eine Schülerin oder Schüler unter Diskriminierung leidet. Nicht nur bei jüdischen Kindern, sondern bei allen Minderheiten. Mehr Prävention heißt, dass wir mehr an die Zukunft denken müssen. Erwachsene kann man nicht mehr erziehen. Bei Kindern kann man noch viel bewirken.
WELT: Haben wir uns in Deutschland zu leicht damit abgefunden, dass jüdische Einrichtungen immer noch und immer wieder Polizeischutz benötigen?
Ziemiak: Wir haben zugelassen, dass sich der Antisemitismus in unserem Alltag ausgebreitet hat, sei es durch den Abdruck geschmackloser Karikaturen in großen deutschen Tageszeitungen oder in einer Diskussionsrunde an einer Berufsschule, wo mir vor kurzem ein Schüler erklärt hat, bei allen internationalen Krisen hätten die Juden ihre Finger im Spiel. Dass ein junger Mensch so denkt, ist tragisch. Noch tragischer ist, dass kein Lehrer aufgestanden ist und etwas gesagt hat.
Teichtal: Es fehlt allzu oft an Zivilcourage. Die Mehrheit will Toleranz, sie will ein jüdisches Leben in Deutschland. Aber die Frage ist, ob die Menschen bereit sind, in dem Moment, wo es darauf ankommt aufzustehen.
WELT: Sie sind von vier arabisch sprechenden Männern auf offener Straße beschimpft und bespuckt worden.
Teichtal: Ich habe Anzeige erstattet, aber die Ermittlungen sind eingestellt worden. Weil es „keine eindeutige Tatzuordnung“ gebe, wie es im Juristendeutsch heißt, da alle vier Verdächtigen die Aussage verweigert haben. Ich fordere die Politik daher auf, Gesetze so zu gestalten, dass sich die Menschen vom Rechtsstaat tatsächlich geschützt fühlen.
WELT: In den vergangenen Jahren sind viele Menschen aus arabischen, meist muslimischen Ländern nach Deutschland gekommen. Wie hat das die Lage verändert?
Ziemiak: Wenn ein junger Mensch aus Syrien blind vor Hass jemanden angreift in Berlin, ihn mit einem Gürtel schlägt, ihn anspuckt, nur, weil er Jude ist, dann ist das inakzeptabel und muss mit den Mitteln des Rechtsstaates verfolgt und geahndet werden. Es gibt unterschiedliche Formen von Antisemitismus. Der zugewanderte Antisemitismus, ist eine Großaufgabe. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch einheimischen Antisemitismus haben. Der Täter von Halle war Deutscher.
Teichtal: Mich hat ein Imam in seine Moschee eingeladen, allerdings mit der Prämisse, nicht über die Shoa zu reden. Warum nicht, habe ich ihn gefragt. Seine Antwort: Weil meine Leute keinen Bezug zu dem Thema haben, wir sind dafür nicht verantwortlich.
WELT: Wie ist die Geschichte denn ausgegangen? Sind Sie in die Moschee gekommen und haben über die Shoa gesprochen?
Teichtal: Ja. Am Ende war der Imam auch einverstanden und ja, wir haben das dann thematisiert. Nach dem Attentat auf die Moschee in Neuseeland haben wir in der Jüdischen Gemeinde Spenden für die Muslime dort gesammelt. Als die Moschee in Reinickendorf gebrannt hat, war ich am nächsten Tag da, obwohl mich keiner darum gebeten hatte. So etwas macht eine Gesellschaft zu einer Gesellschaft. Wir Juden wissen, was es heißt, auf der Flucht zu sein, deshalb begrüßen wir, dass dieses Land Flüchtlingen Schutz bietet. Viele Einwanderer kommen aus Ländern, wo der Hass gegen Israel und gegen Juden mit der Muttermilch aufgenommen wird. Und dieser Hass wandert leider auch mit ein.
WELT: Treten wir in Deutschland diesem Hass entschlossen genug entgegen?
Ziemiak: Uns ist es offenkundig zumindest noch nicht gelungen, den richtigen Zugang zu finden, wenn Menschen aus einem anderen Land zu uns kommen, aus einem muslimischen Kulturkreis, wo man meint, nichts mit der Shoazu tun zu haben. Diesen Menschen müssen wir erklären, dass es bei diesem Thema auch um sie geht, nämlich um ihre Zukunft in unserem Land. Denn erst sind es die Juden, dann sind es die Muslime, dann sind es die Homosexuellen, dann sind es die Frauen, dann sind es diejenigen, die behindert sind, und so geht es weiter. Antisemitismus ist Menschenhass. Dagegen müssen wir gemeinsam kämpfen. Und das fordert die CDU auch. Wir schlagen zum Beispiel vor, dass Deutschunterricht für Zuwanderer, wo immer möglich, an kulturelle und rechtsstaatliche Inhalte geknüpft wird.
WELT: Die Frage ist doch auch, welche Signale von politischer Seite gesendet werden. Die Bundesregierung hat einen Antisemitismusbeauftragten, der Juden empfiehlt, in bestimmten Gegenden nicht mit Kippa auf die Straße zu gehen. Die nationale Fluggesellschaft von Kuwait kann in Deutschland problemlos israelische Passagiere ablehnen. Und die antiisraelische Terrororganisation Hisbollah ist in Deutschland noch immer nicht vollständig verboten. Welche Signale werden mit all dem gesetzt?
Ziemiak: In Deutschland sollte niemand Passagiere aus ethnischen oder religiösen Gründen ablehnen können.
Teichtal: Aber leider ist es in Deutschland nicht verboten.
Ziemiak: Es sollte verboten werden, das ist meine persönliche Meinung.
Teichtal: Genau solche Dinge verunsichern jüdische Bürger in Deutschland. Damit meine ich nicht Sie persönlich, Herr Ziemiak. Aber ich unterhalte mich oft mit Politikern in Deutschland, die dies und jenes nicht in Ordnung finden. Aber sie tun trotzdem nichts. Dadurch sinkt das Vertrauen.
WELT: Eines der Argumente gegen ein vollständiges Verbot von Hisbollah lautet ja, Deutschland würde dadurch Zugänge und Kontaktmöglichkeiten zu der Organisation verlieren. Braucht eine Bundesregierung einen guten Zugang zu einer Terrormiliz, die die Existenz des Staates Israel bedroht?
Ziemiak: Die Sicherheit und das Existenzrecht des jüdischen Staates Israels ist deutsche Staatsräson. In Deutschland ist es verboten, Kennzeichen der Hisbollah in der Öffentlichkeit zu verwenden oder Geld für die Organisation zu sammeln. Wer den militärischen Kampf der Hisbollah unterstützt, riskiert in Deutschland eine Gefängnisstrafe. Mich treibt etwas anderes um: In die UN-Hilfe für den Gazastreifen und die Westbank fließen auch erhebliche Mittel aus Deutschland. Aber dort werden Lehrbücher verwendet, die auch antisemitische Inhalte verbreiten. Die nicht zum Frieden aufrufen. Das ist für mich ein Problem. Das muss überprüft werden, und wo antisemitische Darstellungen vorhanden sind, darf es keine Finanzierung mit deutschem Geld geben.
Teichtal: Richtig. Aber man bekommt sehr merkwürdige Antworten, wenn man fragt, warum hohe deutsche Würdenträger der Islamischen Republik Iran zu ihrem 40-jährigen Bestehen gratulieren, obwohl deren Staatsführung immer wieder zur Vernichtung Israels aufruft.
Ziemiak: Sie meinen den Bundespräsidenten.
Teichtal: Ich bin kein Politiker, aber ich weiß, wie sich das für jüdische Bürger in Deutschland anfühlt. Wie soll jemand Vertrauen fassen, der sich eine Existenz in Deutschland aufgebaut hat und dann hört, dass man im Namen seiner Regierung einem Land gratuliert, das die Vernichtung Israels fordert?
WELT: Eine aktuelle Studie des Jüdischen Weltkongresses zeigt, dass mehr als ein Viertel der gutverdienenden Akademiker in Deutschland antisemitische Haltungen. Hat Sie das überrascht?
Teichtal: Ja. Zwar hatte ich schon vorher beobachtet, wie viele AfD-Mitglieder einen Doktortitel haben. Aber dass so viele Akademiker mit einem Jahreseinkommen über 100.000 Euro antisemitisch denken, hat mich überrascht. Ich hätte mehr von ihnen erwartet. Die Vermittlung von Wissen reicht eben nicht aus. Bildung hat nur einen Effekt, wenn sie mit persönlicher Verantwortung verbunden ist. Nur dann ist es wirklich Bildung. Nur dann kann sich jemand als Führungskraft fühlen.
Ziemiak: Mich hat es schockiert, aber nicht überrascht. Ich kenne das aus meinem eigenen Freundeskreis. Wenn ich etwa beim Abendessen von einem jüdischen Freund erzähle, dass er unglaublich fleißig und intelligent ist, dann antwortet jemand, ganz ohne nachzudenken: Ja, das sind sie doch alle.
Teichtal: Also eine Pauschalisierung.
Ziemiak: Genau. Auch wenn es sich auf den ersten Blick um eine positive Pauschalisierung handelt. Scheinbar. Da werden bestimmte Dinge als Charakterzüge zugeordnet, als Verhaltensweisen einer Ethnie, einer Konfession oder eines Volks. Das führt dazu, dass man ausgrenzen kann, auch im Positiven. Denn dadurch sind „sie“ anders als „wir“. Das ist nicht nur eine Frage von Wissensvermittlung, sondern von Selbstreflexion.
WELT: Mit der Selbstreflexion ist das so eine Sache. Immer öfter ist zu hören, es sei doch jetzt mal gut mit dem Erinnern an den Holocaust, die jetzigen Generationen hätten schließlich nichts damit zu tun.
Ziemiak: Wenn wir die Singularität der Shoa relativieren, dann begehen wir ein Verbrechen an künftigen Generationen. Die Shoa muss unvergessen bleiben. Gerade der jungen Generation muss das bewusst werden. Ich verstehe nicht, warum nicht jeder, der in Deutschland die Schule verlässt, ein Konzentrationslager besucht hat. Die Kultusministerkonferenz sollte dieses Thema vorantreiben. Der verpflichtende Besuch von NS-Gedenkstätten sollte zum Pflichtprogramm in allen Bundesländern gehören. Zudem plädiere ich dafür, die Förderung für Austauschprogramme zwischen deutschen und israelischen Jugendlichen weiter auszubauen. Das haben wir als CDU auch zuletzt im Bundesvorstand so besprochen. Auch stünde es dem Deutschen Bundestag gut an, sein interparlamentarisches Austauschprogramm zu erweitern. Wir haben ein solches Programm mit den USA, wo jeder Bundestagsabgeordnete jedes Jahr einen Jugendlichen aus seinem Wahlkreis vorschlagen kann. Eine solche Kooperation sollten wir mit Israel auf den Weg bringen.
Teichtal: Herr Ziemiak, Sie haben jetzt über die Vergangenheit und die Gegenwart gesprochen. Aber um wirklich einen Effekt zu haben, müssen wir die jungen Leute in die Zukunft bringen. Und die Zukunft heißt: Wissen mit Verantwortung. Ihr seid das Deutschland von morgen und wenn ihr möchtet, dass die Welt Vertrauen in dieses Deutschland hat, dann müsst ihr heute einen Ort daraus machen, an dem alle Menschen respektiert werden. Die eben erwähnte Studie des Jüdischen Weltkongresses hat gezeigt, dass Bildung allein nicht ausreicht. Wir brauchen Orte der Begegnung, weshalb wir in Berlin gerade im Rahmen der von mir gegründeten Initiative „Solidarisch gegen Hass“ einen jüdischen Campus bauen, wo jüdisches Leben sichtbar und erlebbar wird. Wir Juden dürfen uns nicht verstecken, das hat nie was Gutes gebracht.
WELT: Dann ist der Ratschlag des Antisemitismusbeauftragten genau der falsche.
Teichtal: Absolut der falsche. Ohne Frage. Natürlich muss man auf die eigene Sicherheit achten und darf sich nicht mutwillig einer Gefahr aussetzen. Aber grundsätzlich sollten wir nicht die Botschaft vermitteln, wir hätten Angst. Wir sollten mehr Selbstbewusstsein verbreiten, mehr Positives, ja, mehr Liebe. Das sollte unsere Antwort sein.
Das Interview ist zuerst am 2. November 2011 in der Tageszeitung "Die Welt" erschienen.