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Von Werten, die uns wichtig sind
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Die Herausforderungen der Zukunft sind vor dem Hintergrund der Werte, für die Deutschland in der Welt geachtet wird, enorm. Wie steht es um ihre Zukunft? Drohen sie in einer hysterischen Verbote-Debatte leichtfertig geopfert zu werden? CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak traf sich in den Räumen des Erzbistums Köln zum angeregten Austausch mit fünf sehr interessanten Gesprächspartnern.
Lesen Sie hier die Langversion des Textes aus dem Mitgliedermagazin der CDU Deutschlands, C&DU.
Paul Ziemiak: Meine Damen und Herren, aus den über 5.000 Zuschriften der Mitglieder zum neuen Grundsatzprogramm wurden 12 x 12 Leitfragen entwickelt. Uns soll heute die neunte Frage beschäftigen, die sich im Kern mit den Werten befasst, die Deutschland prägen, welche das sind und wie wir sie leben. Herr Professor Rödder, Sie sprechen und schreiben über das Konservativsein, viele sagen „bürgerlich“, andere empfinden den Begriff der „bürgerlichen Politik“ als zu eng gehalten. In der CDU spricht man häufig von der „christlichen Grundhaltung“ – worüber reden wir eigentlich?
Andreas Rödder: Diese Begriffe beschreiben keine Gegensätze. Im Gegenteil. Wir sprechen über einen Politikansatz, in dem sich liberal-konservative, bürgerliche und christdemokratische Elemente in hohem Maße überschneiden. Eine bürgerliche Politik zielt nicht auf das Bürgertum im engeren Sinne, sondern hat bürgergesellschaftliche Werte zum Inhalt. Eine konservative Politik setzt aus einer bestimmten Denkhaltung heraus darauf, den Wandel so zu gestalten, dass er für die Menschen verträglich wird. Und der Begriff „christdemokratisch“ beschreibt die liberale, konservative und soziale Politik der Unionsparteien. Ich würde diese Begriffe nicht scharf voneinander abgrenzen, denn dann funktionieren sie nicht.
Ziemiak: Hätten aus Ihrer Sicht die Gründungsväter der CDU in der damaligen Zeit eher gesagt: „Wir sind eine konservative Bewegung“?
Rödder: Damals haben sie von einer christdemokratischen Bewegung gesprochen, weil ‚christlich‘ nach dem Zweiten Weltkrieg ein inklusives Konzept war, das Katholiken und Protestanten zusammenführte, die vorher getrennt waren. Genau das machte ja immer die Stärke der Union als Sammlungsbewegung der im Kern christlich gebundenen bürgerlichen Mitte aus. Die Debatte darüber, ob die Union christlich-konservativ oder doch mehr liberal ist, ist so eher in den 1960er-Jahren entstanden. Die Gefahr, die für die CDU hieraus entsteht, dass man diese drei Säulen (christlich-konservativ, liberal, sozial) nebeneinander stellt und am Schluss weniger Schnittmengen und mehr Abgrenzung entstehen lässt. Dabei ist es gerade die Überschneidung der drei Ansätze, die das Spezifikum der christlich-demokratischen Politik in der Union ausmacht.
Stephan Grünewald: Konservativ hat auch nicht mehr die Bedeutung, die es früher einmal hatte. Aus psychologischer Sicht sind heute auch die Grünen oder die Fridays-for-Future-Bewegung (FFF) konservativ. Das Thema Nachhaltigkeit hat seine Essenz darin, keinen Wandel zu wollen – also keinen Klimawandel und die Schöpfung, so wie sie ist, das Leben, so wie es ist, zu bewahren. Wenn wir in unserem Institut Interviews mit Mitgliedern der FFF unternehmen, stellen wir schnell fest, dass diese Leute deutlich weniger revolutionär sind als es die 68er noch waren. Das Leben an sich erscheint ihnen wunderbar. Ihr Ziel ist es deshalb, ihren gewohnten Wohlstand zu erhalten. Es geht also mehr um das Konservieren des Istzustands, weniger um eine nachhaltige gesellschaftliche Veränderung.
Ziemiak: Spielt denn in dieser Bewegung Wohlstand eine Rolle oder nicht doch andere Ziele? Wenn ich die Debatte verfolge, geht es bei der FFF doch eher um Wohlstandsverzicht.
Grünewald: Wir sollten den Begriff des Wohlstands differenziert betrachten. Hier gerät auch die Bewegung in die Klemme. Die Teilnehmer entstammen weniger prekären Lebenssituationen, eher dem bürgerlichen Milieu. Sie sind einen Lebensstandard gewöhnt und wollen ihn erhalten. Gleichzeitig merken sie, dass bestimmte Verzichtsmomente notwendig werden. Die Debatte wird allerdings in einem merkwürdigen Zwiespalt geführt. Einerseits wollen die jungen Leute die Erwachsenen alarmieren, einen Weckruf senden, weil sie der Meinung sind, dass die Alten ihre Lebenslaufzeit nicht genügend im Blick haben. Sie gehen jedoch davon aus, dass die Alten sowohl die Macht als auch die Kompetenz haben, da etwas zu ändern. Wenn wir mit Erwachsenen reden, wird sich dort eher über eine motivierte und engagierte Jugend gefreut, die, wenn sie denn man an der Macht ist, etwas verändern wird. Es entsteht also so etwas wie eine Betroffenheitssymbiose, in der die konkreten Verzichtsleistungen und Herausforderungen geschwänzt werden und die Verantwortung an die jeweils andere Generation verschoben wird.
Ziemiak: Herr Grünewald, in Ihrem Buch „Wie tickt Deutschland?“ mit dem faszinierenden Untertitel „Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft“ schreiben Sie, dass etwas in unserem Land grundsätzlich anderes geworden ist. Was genau meinen Sie damit?
Grünewald: Wir in einem aufgewühlten Zustand. Die Menschen spüren, dass etwas im Umbruch ist. Das geht mit einer zunehmenden Unduldsamkeit einher, die zu einer Entzweiung führt. Die Gesellschaft driftet also immer weiter auseinander, wir erleben eine Radikalisierung zu den politischen Rändern. Es gelingt nicht mehr, in einer gesitteten Streitkultur Positionen zu klären, weil das Wutpotenzial zugenommen hat.
Ziemiak: Gibt es einen Punkt, den man als Auslöser für diese Wut festhalten kann?
Grünewald: Wir Menschen suchen gerne einen festen Punkt in der Hoffnung, wir könnten zu ihm zurückgehen und ihn eliminieren, damit alles wie früher wird. Horst Seehofer hatte das versucht mit der Aussage, die Flüchtlingskrise sei die Mutter aller Probleme. Aus psychologischer Sicht kann man das so nicht teilen. Mit ihr wurden eher Probleme zugespitzt, die vorher schon in unserem Land vorhanden waren. Was eine Grundproblematik in Deutschland ist: Wir erleben unser Land als eines der letzten Wohlstandsparadiese. Ein Blick über den Tellerrand nach Griechenland oder Frankreich bescheinigt hierzulande dann immer: Uns geht es noch verhältnismäßig gut dank geringer Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum und einem stabilen Gesundheitssystem. Gleichzeitig spüren sie den Umbruch, mit Digitalisierung, Globalisierung, dem internationalen Terrorismus. Die alten Gewissheiten lösen sich aus. Dieser Wohlstand ermöglicht, dass es den Menschen, allen voran der bürgerlichen Mitte, gelingt, diese Drohszenarien auszublenden. Sie fokussieren sich entsprechend stark auf ihre eigene Welt, sehen Deutschland als wunderbares Auenland, träumen vom nächsten Urlaub oder wie der Wintergarten begrünt werden kann. Probleme werden zwar nicht geleugnet aber wie in eine Art Bad Bank abgeschoben, ins sogenannte Grauenland. Wir befinden uns deshalb in einer seltsamen Spaltungssituation. Konservativ gesehen will man also die Zeit anhalten, das Schöne bewahren, während man gleichzeitig die Zukunft als einen Einbruch ins Grauenland wahrnimmt. Es schwingt also eine Zukunftsverzagtheit mit und man hofft, in einer permanenten Gegenwart verbleiben zu können. Die große Herausforderung für Parteien und die Gesellschaft ist, wie es nun gelingt, aus dem Grauenland ein Trauenland zu machen, verbunden mit dem Gedanken, wieder eine gemeinsame gesellschaftliche Mission zu entwickeln und dann auch umzusetzen.
Ziemiak: Herr Serrao, bedienen Sie mit Ihrer „Neuen Zürcher Zeitung“ eine Sehnsucht der Leser, weil Zukunftsthemen aus bürgerlich-konservativer Sicht von den anderen Medien nicht ausreichend dargestellt werden?
Marc Felix Serrao: Das würde ich so nicht sagen. Ich denke, die deutsche Medienlandschaft ist wesentlich besser als ihr Ruf. Es ist eine der heterogensten und vielstimmigsten Medienlandschaften, die es noch gibt. Wir sind ein Angebot unter vielen, das sich vielleicht dadurch unterscheidet, dass es von außen kommt. Nun stehe ich als deutscher Staatsbürger nicht außen, aber im regen Austausch mit unserer Zentralredaktion in Zürich. Dort wird von außen auf dieses Land geschaut. Das merkt man oft bei aktuellen Diskussionen hierzulande, die etwas distanzierter betrachtet werden, unbeteiligter und oft auch unaufgeregter.
Ziemiak: Haben wir Ihrer Meinung nach in Deutschland eine generelle Schwierigkeit mit Begriffen wie „bürgerlich“ oder „konservativ“?
Serrao: Bürgerlichkeit ist in Deutschland ein Gummibegriff, den sich jeder so zurechtbiegt, dass er für ihn passt. Selbst die AfD behauptet von sich, sie sei bürgerlich, was angesichts ihres rechtsradikalen Flügels Unfug ist. Viele Linke behaupten dies auch. Professor Rödder hat ja vorhin den Versuch unternommen, den Begriff mittels Attributen mit Leben zu füllen – Leistungsbereitschaft, Selbstverantwortung. Der zentrale Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz liegt meines Erachtens im Freisinn, was beispielsweise bei der NZZ bereits seit 240 Jahren so praktiziert wird. Es sind unterschiedliche Weltanschauungen und nicht eine Nischenveranstaltung. In Deutschland werden das Liberale und die Selbstverantwortung des Einzelnen klein geschrieben, in der Schweiz groß. Dem Bürger wird hier wenig zugetraut und dort viel. Gleiches gilt für die Marktwirtschaft, die in der Schweiz nicht allzu leichtfertig infrage gestellt wird, wie wir das hierzulande erleben und da möchte ich auch Herrn Grünewald widersprechen, der gerade im Wortsinne meinte, die FFF-Bewegung sei im Kern eine konservative Veranstaltung. Lieber Herr Grünewald, ich weiß nicht, wie viele „Burn Capitalism“-Schilder ich schon auf deren Demos gezählt habe und wer die Legitimierung der amtierenden Regierung infrage stellt, betreibt Solidaritätsadressen an die Antifa, eine Organisationsform, die politische Gewalt nicht ablehnt und, wie ich finde, zurecht auch vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Das ist vieles, aber gewiss nicht konservativ.
Grünewald: Für mich bleibt die Haltung im Kern konservativ. In unseren Gesprächen treffen wir allerdings immer wieder auf den Zwiespalt, was jeder einzelne zu leisten bereit ist.
Serrao: Ich war neulich bei einer der Demos am Brandenburger Tor gewesen. Da zeigte die Rednerin auf die Kuppel des benachbarten Reichstags, wandte sich an ihre Zuhörer und sagte sinngemäß: „Da sitzen die Leute, die euch seit Jahrzehnten belügen“. Das ist eine Form der Demokratieverachtung, die ich ganz bedenklich finde. Deshalb würde ich bei dieser Bewegung auch nicht von einer Tendenz zur Radikalisierung sprechen. Das ist radikal. Und nicht bürgerlich.
Birgit Kelle: Wir stellen in unserer Gesellschaft gerade fest, dass die Frage, was zu bewahren lohnt, vielleicht auch ein Anlass wäre, zwischen konservativ und nicht konservativ zu unterscheiden. In der Tat ist die Position, die Natur zu bewahren, eine konservative. Die Schöpfung zu bewahren ist dazu eine christliche Position. Der Mensch wird im links-grünen Spektrum aber fast durchweg als Feind der Natur dargestellt, man will alles retten, außer den Menschen, da löst sich die konservative Weltanschauung der Linken dann wieder auf. Der Konservativ-Bürgerliche ist für meinen Begriff jemand, der den Staat nicht infrage stellt, sondern den Staat als Institution annimmt und auch gut findet. Jemand, der Rechtsstaatlichkeit hochstellt und sich für die Freiheit des Einzelnen einsetzt. Das sind in der Regel auch Leute, die Familie als einen sehr hohen Wert ansehen. Dem steht das sozialistische Weltbild der SPD diametral entgegen, das immer im Kollektiv denkt. Vor ein paar Jahren war man dort einmal in den Wahlkampf gezogen mit dem Slogan: „Das Wir entscheidet“. Im ersten Augenblick klingt es inklusiv. Das ist aus Sicht eines Konservativen aber keine Verheißung, sondern eine Bedrohung, denn das „Ich“ des Individuums hat in diesem „Wir“ nichts mehr zu melden. Genau das stellt für mich auch eine ganz klare Unterscheidung zwischen bürgerlichen Werten und sozialdemokratischen Positionen dar, die im Zweifel immer auf das Kollektiv setzen.
Ziemiak: Wie sieht das bei den deutschen Unternehmern aus, Frau Röser? Ich habe die Kritik gelesen mancher Unternehmer an Beschlüssen der Bundesregierung. Zählt ein Unternehmern noch das „Ich“ oder eher das „Wir“?
Sarna Röser: Ich spreche ja für den Mittelstand und vor allem auch für die Nachfolgegeneration an jungen Unternehmer. Also junge Menschen, die in Zukunft die familiengeführten Unternehmen in die nächste Generation führen sollen. Klima und Nachhaltigkeit liegt bei uns Familienunternehmern in der DNA. Wir denken per se in Generationen und handeln alleine schon deshalb nachhaltig. Von daher betrifft uns dieses Thema natürlich wie alle anderen auch. Mir persönlich fehlt eine gesunde Streit- und Debattenkultur, die offen geführt wird, sich an Fakten orientiert und nach Lösungen strebt. Beim Klimawandel gibt es Instrumente, die wir aushandeln sollten, wie den Emissionshandel zum Beispiel. Wir jungen Unternehmer finden das gut. Aber wir dürfen darüber nicht aus den Augen verlieren, dass in Zukunft die Menschen weiterhin ausreichend Arbeitsplätze in einer stabilen Wirtschaft finden. Da fehlt mir der Blick auf die Fakten. Es wird viel zu oft ein apokalyptisches Bild gezeichnet, dabei waren Angst und Panikmache noch nie ein guter Berater. Es führt kein Weg daran vorbei, die Wirtschaftsleistung mit dem Umweltschutz in Einklang zu bringen.
Ziemiak: Wenn wir über diese Grundlagen sprechen und die Rollen der Volksparteien dabei in den Fokus nehmen und auch über unser neues Grundsatzprogramm reden – ist klar, wohin wir wollen?
Röser: Offen gestanden, nicht wirklich. Mir und auch vielen anderen Unternehmern erscheint es so, dass die konservativen Elemente in der CDU verloren gegangen scheinen. Werte, wie wir in Deutschland zusammen leben, Prinzipien, nach denen Familienunternehmen ausgerichtet leben und handeln. Werte wie Freiheit, Verantwortung, Wettbewerb, Chancengleichheit. Diese wie auch Heimat und Tradition tragen wir in unserer DNA, aber wir haben das Gefühl, dass sie immer mehr verschwimmen und in Vergessenheit geraten. Dadurch scheinen sie nicht mehr klar erkennbar zu sein. So erkläre ich mir auch, dass die Menschen zunehmend orientierungslos erscheinen und nicht mehr wissen, welche Partei sie dann tatsächlich wählen sollen. Oft wird sich auch gefragt, ob die CDU, diese christlich-demokratische Union, noch die Partei von damals ist, die eben diese Werte prägte.
Grünewald: Aus psychologischer Sicht kann ich das nur unterstreichen. Die Politik wird zunehmend als breiig wahrgenommen, austauschbar und bis auf die Grünen oder die AfD auch konturlos. Diese Breiigkeit geht einher mit dem Verlust des inneren Kompasses. Mit Blick auf 30 Jahre 1989 war mit dem Wegfall dieses Systemwiderstreits eine Gemengelage da, die das Gefühl vermittelte, dass man sich jetzt nicht mehr zu streiten brauchte. Politische Verantwortung wurde an vertrauensvolle Gestalter übertragen. Das war für eine lange Zeit Kohl und fast genauso lange Angela Merkel. Es gibt deshalb wieder eine große Sehnsucht nach Standpunkten, nach fester Orientierung. Das wiederum führt eigentlich auch wieder zum Wir-Gefühl. Uns begegnet immer wieder ein großes Wertschätzungsdefizit in unserem Land. Wenn Menschen mit bodenständigem Lebensstil spüren, dass die Eliten naserümpfend auf sie hinabblicken, weil sie immer noch Fleischberge weggrillen, rauchen oder Bier trinken, kann weder Zugehörigkeit noch ein Wir-Gefühl entstehen. Dadurch haben wir als Gesellschaft eine Situation, dass ein Teil postuliert, er lebe und bewege sich bereits richtig im moralischen Sinne, und erst wenn der andere Teil, der unmoralisch lebt und konsumiert, sind ändert, haben wir eine bessere Gesellschaft. Der Schwarze Peter der Verwandlungsnotwendigkeit wird so abgeschoben an einen Teil der Bevölkerung, wodurch weder Gemeinsinn noch Wir-Gefühl entstehen kann.
Ziemiak: In diesem Zusammenhang fällt mir eine Beobachtung aus den letzten Wochen ein. Ich habe neulich eine alte Folge der WDR-Serie „Ein Herz und eine Seele“ mit Ekel Alfred von 1975 gesehen. Diese Folge spielte zur Zeit der Kanzlerschaft Willy Brandts, Alfreds Schwiegersohn ist in der Serie ja bei den Jusos aktiv. Und es kommt zum Gespräch über „die in Bonn“. Und Alfred kritisiert die CDU für ihre Beliebigkeit, für ihren Linkskurs, und es sei nicht mehr die CDU, wie er sie noch unter Kiesinger kannte. Herr Professor, ist diese Richtungsdebatte typisch für Volksparteien?
Rödder: Der Vorwurf, dass die Union an Profil verliert, ist so alt wie die Union selbst. Das heißt aber nicht, dass sie ihn nicht ernst nehmen muss. Mit Anschluss an das, was Frau Röser eben sagte, kommen zwei Dinge zusammen. Die inhaltliche Erosion einerseits und das, was Herr Grünewald angesprochen hatte, die Polarisierung unserer Öffentlichkeit. Die Linke hatte immer den Vorteil, für sich die bessere Moral in Anspruch nehmen konnte. Das macht es der politischen Linken grundsätzlich auch leichter. Damit war es nach Ende des Kommunismus erst einmal vorbei. Aber die neue linke Bewegung, die sich seit den 1980er-Jahren machtvoll aufgetan hat, ist ein multikulturalistischer Kosmopolitismus, für den heute in erster Linie die Grünen stehen. Diese stellen sich, ob nun Seenotrettung, Flüchtlingshilfe oder Umweltschutz, mit einem hypermoralischen Unbedingtheitsanspruch und voller Verachtung gegenüber denjenigen auf, die dies aus ihrer Sicht falsch sehen oder falsch bewerten. Auch Hillary Clinton hatte in ihrem Wahlkampf von den „deplorables“ gesprochen – den Beklagenswerten, die Trump wählen. Sie haben ihm aber ins Weiße Haus verholfen und bei ihnen wächst ein nationalistisches Ressentiment von rechts. Diese Haltung wird in Deutschland von der AfD bedient. Es ist also k ein Zufall, dass den Leuten auffällt, dass die politische Diskussion von den Grünen oder von der AfD dominiert wird. Tatsächlich erleben wir diese Polarisierung, die sich gegenseitig aufschaukelt. Und dazwischen liegt die Erosion der politischen Mitte, das Wegbrechen der Volksparteien, das die SPD in besonderem Maße spürt. Genau hier, zwischen diesen Extremen, liegt die demokratische Verantwortung, weswegen ich denke, dass es höchste Zeit ist, dass die klassischen Volksparteien ihre politischen Positionen offensiv begründen und auch offensiv in den Meinungsstreit eintreten sollten. Wir brauchen eine sprechfähige Mitte!
Ziemiak: Wenn man die Volksparteien in der Mitte verortet, ist ihre Positionierung doch zwangsläufig eine, die in der Mitte zusammenführt. Das führt aber doch zu einem Widerspruch zu klarer Kante und zu einem Entweder-oder.
Rödder: Das Problem ist, dass sowohl die moralisierenden Kosmopoliten als auch die ressentiment-geladenen Nationalisten einfache Antworten für sich beanspruchen. Das ist natürlich ein Startvorteil in dieser politischen Debatte. Aber das kann in einer Demokratie ja nicht der Maßstab sein. Eine differenziertere Position des Sowohl-als-auch lässt sich politisch formulieren, sie muss auch politisch begründet werden. Man muss dabei offensiv in die politische Meinungsbildung eintreten, was für mein Dafürhalten die Aufgabe einer Volkspartei ist. Denn das ist der Kern der Demokratie.
Ziemiak: In einer solchen polarisierten Welt, wie sie gerade von Herrn Professor Rödder beschrieben wird – welche Rolle spielen da die Medien?
Serrao: Es gibt sicherlich eine linke bis linksliberale Medienmehrheit in Deutschland. Das ist auch in Ordnung – so lange sich die Akteure am freien Markt behaupten. Problematisch wird es, wenn alle Bürger für ein Angebot bezahlen müssen. Ich beobachte in dieser Hinsicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Union und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Pathetisch gesprochen: Welche demokratietheoretische Aufgabe kommt einer Volkspartei zu? Sinnbildlich gesprochen, von der Mitte bis an den verfassungskonformen Rand hinein zu integrieren. Wenn man die SPD noch als Volkspartei wahrnimmt, dann tut sie genau das auf der linken Seite. Wir haben bei den Jusos junge Mitglieder, die von Enteignung träumen. Bei der Union hingegen hat es eine Abkehr von den Rechten in der Union gegeben. Wenn die Union Pech hat, wird es irgendwann für eine linke Mehrheit reichen und man hat rechts von sich eine AfD, mit der man nicht koalieren will. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk hatte man seit jeher ein breites Spektrum abgebildet. Es gab im ZDF wie in der ARD konservative Kommentatoren. Heute gibt es nur noch eine Handvoll wortmächtige linke Meinungsführer, die kein balancierendes Element haben. Das stört viele. Bei privaten Medien ist diese Kritik nicht angebracht, dort stellt man sich mehr dem Markt. Wenn man mit einem gutgemachten linken Angebot seine Nachfrage bedient – wunderbar. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hingegen muss die die Kritik an seiner Einseitigkeit gefallen lassen. Denn der Unterschied ist: Bei der CDU und auch bei der frisch ergrünten CSU können die Wähler entscheiden, ob sie diesen Kurs unterstützen. Bei ARD und ZDF haben die Zuschauer keine Wahl. Die Anstalten werden von allen finanziert, aber nennenswerte konservative Köpfe gibt es in den Programmen schon lange nicht mehr.
Kelle: Letztlich geht die Taktik aber nicht auf, sich die Felder der politischen Mitbewerber einzuverleiben. Themen wie Homoehe, Gender oder Umweltschutz führen beim Versuch der Volkspartei, es allen recht zu machen, zu einem Verzetteln und zum eigenen Profilverlust.
Ziemiak: Entschuldigen Sie meine Unterbrechung, aber eine Partei kann doch nicht aus strategischen Gründen heraus Themen rekrutieren. Beispiel Homoehe – da hat sich auch die Meinung innerhalb der Gesellschaft völlig verändert. War das im Jahr 2001 noch ein Aufreger, interessiert es junge Menschen in heutigen Schulklassen nullkommanull. Ist es da nicht richtig, wenn die Union als Volkspartei dies zur Kenntnis nimmt und hieraus die Konsequenzen zieht?
Kelle: Zur Kenntnis nehmen und Konsequenzen ziehen sind für meinen Begriff zwei unterschiedliche Dinge. Die Frage ist, wie die Union auf solche gesellschaftlichen Herausforderungen reagiert vor dem Hintergrund der Unterscheidung im Profil mit dem politischen Gegner. Welchen Prinzipien folgen wir? Bleiben wir beim Beispiel der Homoehe, dann folgt für mich aus dem C, D und U ein christliches Menschenbild, das tonangebend ist. Dann müssen wir uns fragen, ob die christliche Definition von Ehe für uns noch eine Rolle spielt oder eben nicht mehr. Das heißt, die Prinzipien, an denen wir uns als Volkspartei entlanghangeln, müssten sich in der Form der Tagespolitik wiederspiegeln. Wie wir den Menschen sehen, muss darin zum Ausdruck kommen, wie wir Dinge öffentlich benennen. Wenn wir also einem christlichen Menschenbild folgen, was wir nach der Eigendefinition in der Union ja tun, dann stellen wir fest: Wir setzen auf das Individuum, auf die Menschenwürde jedes einzelnen, was für uns Konsequenzen hat vom Lebensbeginn bis zum Ende. Wenn wir über Abtreibung und Euthanasie diskutieren, folgen wir dem christlichen Menschenbild als unser Leitprinzip und können für mein Dafürhalten nicht davon abweichen. Die Tagespolitik muss sich also an den Prinzipien messen. Entweder haben wir also bspw. die Eigenverantwortung des Individuums auf dem Schirm oder aber wir setzen auf den Nanny-Staat, der sich um alles kümmert – das sind aber gänzlich unterschiedliche Ansätze und unterschiedliche Sichtweisen. Daraus dann im Einzelfall konkrete Politik zu machen, darin ist die Schwierigkeit begründet.
Ziemiak: Bei der Migration verbinden wir aber doch auch unsere christliche Überzeugung der Humanität mit rein rationalen Argumenten und Sichtweisen, wie bspw. der Leistungsfähigkeit und Aufnahmefähigkeit eines einzelnen Staates.
Kelle: Man könnte ketzerisch sagen, dass es schön wäre, wenn wir es so täten. Das ist eine Diskussion, die – glaube ich – viele in diesem Land führen würden. Wie leistungsbereit oder aufnahmefähig sind wir? Wo steht noch der Rechtsstaat? Gelten seine Prinzipien, die für alle Bürger Bestand haben, auch für diejenigen, die hier neu ins Land kommen? Wie halten wir es generell mit dem Rechtsstaat? Setzen wir unser eigenes Recht noch durch oder setzen wir mehr auf europäisches Recht? Das sind Dinge, die aus meiner Sicht überhaupt nicht debattiert werden. Als Grüne oder als AfD kann ich mich viel einfacher auf Extrempositionen berufen, kann Forderungen aufstellen, die ich nicht Gefahr laufe, umsetzen zu müssen. Auch die Linke ist ja dafür bekannt, vieles zu versprechen, was dann nicht umgesetzt wird. In der Union hingegen muss man konkret werden.
Grünewald: Ich bin da bei Ihnen. Man muss von seinen eigenen Prinzipien ausgehen und dazu bereit sein, wieder in den Kampf der Prinzipien einzusteigen. Streitkultur ist letztendlich ein Befriedungsangebot, weil sie dazu führt, dass Andersdenkende in einen diskursiven Prozess einsteigen. Streit ermöglicht einen Perspektivwechsel und wenn es mir dabei gelingt, die Perspektive des anderen zu sehen und ihn zu verstehen, stehe ich schon mit einem Bein im Kompromiss. Streit führt letzten Endes dazu, dass man dazu bereit ist, gemeinsam um Lösungen zu ringen. Und genau daran fehlt es in unserer Gesellschaft gerade, weswegen sie sich an vielen Stellen radikalisiert und entzweit.
Ziemiak: Jede Streitkultur muss am Ende aber auch zu einem Ergebnis kommen. Sie muss auch zu politischen Ergebnissen führen und wir sehen gerade an Beispielen wie Trump oder dem Referendum in England, dass Streitkultur nicht zu einer Befriedung der Debatte beigetragen hat.
Rödder: Inzwischen kann ich bei den Veranstaltungen, bei denen ich rede, mit Sicherheit davon ausgehen, dass der Satz, der den meisten Applaus erhält, lautet: „Wir brauchen Kompromisse, aber erst einmal Positionen.“ Natürlich ist der Kompromiss das Wesen einer Demokratie, aber die formulierte Position, von der aus dann ein Kompromiss möglich wird, erlebe ich ganz stark als Sehnsucht von vielen Menschen.
Kelle: Auch die Sehnsucht nach einer Debatte tatsächlich.
Rödder: Natürlich! Position – Debatte – Kompromiss – in dieser Reihenfolge.
Kelle: Ich würde es auch nicht als Streit bezeichnen, denn hier kommt es innerparteilich und vor allem medial zu Inszenierungen. Ich würde sagen: Wenn es in der Union zu einem Thema unterschiedliche Meinungen gibt, dann ist das normal, denn eine Volkspartei deckt ja ganz unterschiedliche Strömungen und Volksgruppen ab. Hier muss also erst einmal um eine gemeinsame Antwort gerungen werden. Vielleicht bräuchten wir tatsächlich wieder mehr Mut, auch eine kontrovers geführte Debatte auszuhalten und nicht immerzu direkt einzuknicken, um eine moralisch einwandfreie Meinung zu haben. Dabei kommt es schnell zur Ausgrenzung Andersdenkender. Das führt dann dazu, dass man sehr leichtfertig mit mancher Position in die Schmuddelecke gerät und an den moralischen Pranger gestellt wird.
Ziemiak: Gibt es Werte in Deutschland, die Menschen per se in eine Schmuddelecke stellen und die nicht mehr von der Union aufgefangen werden? Was sagt der Beobachter von außen dazu?
Serrao: Es gibt zumindest eine große Ausgrenzungsbereitschaft. Ein Beispiel mit Blick auf meine vorherige Antwort um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Es gibt dort den Moderator Georg Restle, der kürzlich auf FDP-Chef Christian Lindner losgegangen ist, weil dieser eine strengere Asylpolitik gefordert hatte. Restle twitterte, dass Lindner auf der rechten Überholspur unterwegs in die Sackgasse sei. Das ist eine Form der Etikettierung, die eben keine Debatte oder einen Meinungsaustausch sucht, sondern lediglich eine Position feststellt, die nicht in den politischen Diskurs gehört. Das und ähnliches nehme ich schon verstärkt wahr. Und dann wird halt im Stillen gegrummelt, oder sich im Zweifelsfall radikalisiert. Und das ist ungut.
Röser: Genau das ist der Kern des Problems. Immer weniger trauen sich, offen zu reden. Das geht mit dem Gefühl einher, zu einer Minderheit zu gehören. Egal ob beim Thema Migration oder Klima – die Themen sind derart emotional aufgeladen, dass sich viele konservativ Denkende aus diesem Grund nicht mehr bei der Union beheimatet fühlen und das vielleicht mit ein Grund war, stattdessen die AfD zu unterstützen. Dieses Gefühl, zu einer Minderheit zu gehören, wenn man offen über ein Thema spricht, sehen sehr viele als problematisch an und fühlen sich deshalb bei der CDU nicht mehr aufgehoben.
Ziemiak: Weil die CDU ihnen das Gefühl gibt: Wir brauchen eure Meinung nicht mehr?
Röser: Weil keine gesunde Debatte mehr stattfindet.
Kelle: Weil es auch keinen Rückhalt mehr gibt. Ich schreibe viel über Familienpolitik. Die Verteidigung der traditionellen Familie als einen Grundpfeiler unserer Gesellschaft gilt inzwischen in manchen Kreisen als rechts. Getreu dem Motto, dass hier ein tradiertes Familienmodell unterstützt wird. Demnach wäre der Großteil der in Deutschland lebenden Familien politisch rechts, denn die Ehe (von Mann und Frau, Anm. der Red.) ist laut Statistischem Bundesamt die Familienrechtsform schlechthin. Wo bleibt da der Rückhalt? An diesem Punkt erleben wir, dass die Volksparteien – das trifft nicht nur die Union, sondern auch die SPD – vor lauter Angst, man diskriminiere dann andere Lebensmodelle, es nicht mehr wagen, sich zu ihrem Idealbild zu bekennen, das man ja aus guten Gründen heraus hochhält. Immerhin stellte die Ehe im klassischen Sinne für den Staat einen wesentlichen ökonomischen Faktor dar. Es macht schon einen Unterschied, ob man Kinder bekommt oder eben nicht.
Ziemiak: Können Sie denn nachvollziehen, dass Menschen, die für sich, aus welchen Gründen auch immer, einen anderen Lebensentwurf gefunden haben als den, den eine Volkspartei als ihr Idealbild ausgibt, sich von dieser Partei zurückgesetzt fühlt?
Kelle: Ja, ich kann das verstehen, aber für solche Fälle müssen wir gute Antworten finden. Ein Ideal bedeutet ja nicht, dass daneben nichts anderes stehen kann. Das Ideal ist das, was uns als Gesellschaft am meisten nutzt, sofern sich alle an die Regeln halten. Faktisch: Eine ideale Familie ist die, die durchschnittlich 2,0 Kinder auf die Welt bringt, sie zu Steuerzahlern heranzieht und das eigenverantwortlich und ohne staatliche Hilfe. Dies ist für die gesamte Gesellschaft ein fiskalischer Gewinn. Eine Familie, die auseinanderbricht, die staatliche Hilfe braucht, ist für uns erst einmal ökonomisch ein Risiko. Deshalb sollten wir – politisch betrachtet, nicht ideologisch – alles tun, damit Familien stabil zusammenleben, sich selber ernähren können, ihre Kinder verantwortungsbewusst groß ziehen und uns, wenn möglich, eine Geburtenrate von 2,0 bescheren. Das ist schlicht vernünftig und keine Ideologie.
Rödder: Der entscheidende Unterschied ist, ob die Politik von der Mitte her gestaltet wird oder von den Rändern ausgeht. Eine Politik von der Mitte her, ist zugleich offen und sensibel dafür, wo sie Ausgrenzung und Diskriminierung schafft. Das ist etwas völlig anderes, als Politik von den Rändern her zu machen, nur von Diskriminierung her zu denken und so die gesamte Mitte zu delegitimieren.
Grünewald: Wenn man auf Jugendliche blickt, merkt man, dass sie es durchaus hinbekommen, Ideal und Toleranz zu vermitteln. Gerade an den ganz Kleinen mit dem Hintergrund der intakten Familie lässt sich das gut ablesen. Deren Grundangst betrifft nicht etwa eine autoritäre Familienführung oder dass ihnen die Mittel ausgehen. Ihnen macht die Brüchigkeit Angst. Weil in ihrem Umfeld zunehmend Patchwork-Verhältnisse entstehen, sie vielen allein erziehenden Vätern oder Müttern begegnen, treibt sie dieses Damoklesschwert um. Es ist faszinierend, wie Sechs- und Siebenjährige in unseren Studien von diesem gebrochenen Urvertrauen ausgehen und deshalb von einem erhöhten Verantwortungsgefühl sprechen: Ich muss jetzt die Familie zusammenhalten. Ich muss die Mutter trösten, den Vater beschwichtigen. Wenn ich diese Funktion der erwachsenen Familienmoderation nicht übernehme, dann fliegt mir der Laden auseinander, fürchten die Kinder. Sie übernehmen so schon in jungen Jahren die Verantwortung für die Stabilisierung der Familie. In diesem Zusammenhang ist die Rolle des Staates sehr wichtig, der sich hinterfragen muss, was er zu leisten imstande ist, um Familien zu entlasten, damit es nicht zu diesen Verwerfungen kommt. Auf der anderen Seite finden die jungen Leute in den sozialen Netzwerken einen gewaltigen Resonanzraum für ihre Probleme. Wenn aber dann einmal das W-LAN ausfällt, ist schnell das Gefühl vorhanden, ins Bodenlose zu stürzen, weil nichts mehr da ist, was verlässlich ist. Wir haben also wieder eine große Sehnsucht nach Familie in der Jugend …
Kelle: … und nach Zusammenhalt. Deshalb ist es sinnvoll, politisch zu unterstützen, was Familie zusammenhält und nicht, was sie ständig auseinanderführt.
Röser: Wir müssen auch aufpassen, dass wir unsere Bürger nicht zu einer sogenannten Vollkasko-Mentalität erziehen, die zum Ziel hat, dass der Staat wirklich alles übernimmt. Bspw. die soziale Absicherung, die die Bürger in eine Art Wattebausch packt. Daher müssen wir uns fragen: Wie viel davon verträgt der Mensch vor dem Hintergrund, dass er nicht an Mut verliert? Mut, in die Selbstständigkeit zu wechseln, Mut zum eigenverantwortlichen Leben. Das besorgt mich auch deshalb, weil der Staat dieses Sich-ergeben dankbar annimmt. Daher würde ich mir wünschen, dass man sich viel mehr auf die Leitprinzipien zurückbesinnt.
Kelle: Vielleicht sollten wir das Subsidiaritätsprinzip noch einmal für alle Politikfelder durchdeklinieren. Wo brauchen wir den Staat und wo sollte er sich raushalten? Egal, ob es dabei um Schule geht, Unternehmen oder das Politikfeld der Familie. Wir haben dieses Prinzip parteiunabhängig in der Verfassung verankert, müssen aber dennoch die Handlung hinterfragen. Wenn ich Subsidiarität haben will, kann ich eben auch nicht den Nanny-Staat installieren.
Ziemiak: Welche Botschaften müssen deutlich werden in der Debatte, wenn die CDU das neue Grundsatzprogramm als Chance für sich erkennt und nutzen will?
Serrao: Also, ich werde einen Teufel tun und jetzt die CDU beraten.
Ziemiak: Sie können ja auch kritisieren, an welcher Stelle wir es zu wenig getan haben.
Serrao: Der Tenor und Konsens auch dieser Runde ist, dass die Union aus CDU und CSU eine Vielzahl an bürgerlich-konservativen und liberalen Themen hat liegen lassen. Bei mir verfestigt sich der Eindruck, dass die Ratlosigkeit in beiden Parteien recht groß ist. Deshalb gibt es bei der CDU auch ein moderiertes Gespräch mit der Basis. Man könnte ja stattdessen auch aus dem Konrad-Adenauer-Haus heraus Thesen in den Raum stellen und diese dann diskutieren. Aber das habe ich so nicht wahrgenommen. Man will mit allen reden und schauen, ob sich ein Konsens herstellen lässt. Ob das dem Anspruch, Volkspartei zu sein, gerecht wird, müssen letztenendes Sie unter sich klären.
Grünewald: Im Gespräch bleiben ist wichtig, aber ein wichtiger Punkt ist sicher auch das Beziehen eines eigenen Standpunktes. Mit Blick auf die Genderdebatte bspw. haben wir beobachtet, dass der Mann zunehmend in Schwierigkeiten gerät, einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Viele sind aus ihrer Erziehung heraus noch anderes gewohnt. Seit den 1980er-Jahren beobachten wir in der Forschung, dass Männer zunehmend in einer Art Rollendiffusion festhängen in der Gestalt, dass das alte Rollenbild des starken Patriarchen mit einem neuen des soften Frauenverstehers konkurriert. Neulich hatten wir für eine Männerstudie in einer offenen Runde acht Männer eingeladen, mit ihnen darüber gesprochen, wie der Mann von heute sein soll. Einer meldete sich, sagte, er sollte die beste Freundin seiner Frau sein. Niemand der sieben anderen widersprach. Das hängt damit zusammen, dass jeder Fehler vermieden werden soll, nur um der Partnerin genüge zu sein. Wenn wir aber mit Männern in den Tiefeninterviews über berufliche Kontexte reden, dann sind sie wie verwandelt – – dann strotzen sie vor Selbstbewusstsein und sind sie voller Funktionspotenz, den im Beruf folgen sie einem festem Regelwerk und betonierten Hierarchien. fGeht es aber ums Privatleben, dann stürzen sie aus dieser Funktionspotenz in eine Art Privatinsolvenz und wirken orientierungslos.
Ziemiak: Lassen Sie mich auf die Rolle der Geschlechter zu sprechen kommen. In der Werte-Debatte, wie auch in Ihren Büchern, nimmt sie viel Platz ein. Herr Professor Rödder, Sie nennen es „Familiy Mainstreaming“, Birgit Kelle hat viel geschrieben über „Gender Mainstreaming“ und bei Grünewald heißt das Kapitel „Der gezähmte Mann“. Ist diese Debatte über das Rollenverständnis von Mann und Frau ursprünglich für andere Debatten?
Rödder: Ich will nicht behaupten, was Henne und was Ei ist. Die Veränderung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern ist eine der grundlegenden Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Mit Blick auf die Rolle der Familien haben sich auch ganz eigentümliche Konstellationen ergeben. Feminismus und Unternehmer haben zusammengefunden, um die Erwerbstätigkeit von Müttern zu erhöhen. Das wiederum hat zu einer Familienpolitik geführt, die in den letzten 15 Jahren vor allem auf die Erwerbsfähigkeit von Müttern oder Mutterschaft von erwerbstätigen Frauen zielt. Aber Bedürfnisse von Familien, die über diese Erwerbstätigkeitsbefähigung hinausgehen, wurden im Grunde aus dem Blick verloren. Als klassische Partei für Familienpolitik hätte sich für die Union hier ausreichend Raum ergeben, Familienpolitik in einem viel breiteren Sinne zu machen als nur in dem vorgenannten. In diesem Sinne versuche ich mit dem Begriff des „Familiy Mainstreaming“ den durchaus kontroversen Begriff des „Gender Mainstreaming“ aufzunehmen und den Stier bei den Hörnern zu packen, um so konstruktiv eine christdemokratische Familienpolitik vorzuschlagen, die sich an die Breite der Familien richtet.
Zugleich beobachten wir einen „neuen Kulturkampf der Geschlechter“, wie die NZZ dieser Tage schrieb – zum Beispiel in der Paritätsfrage. Eine echte Debatte über Argumente findet darüber kaum statt. Eine christlich-demokratische Geschlechterpolitik hat für meinen Sinn bereits einen Kardinalfehler gemacht, als sie von dem Begriff der „Gleichstellung“ sprach. Dieser Begriff zielt, wenn man ihn wörtlich nimmt, auf Ergebnisse. Aber eine liberal-konservative Politik zielt auf Voraussetzungen, nicht auf Ergebnisse. Nach ordoliberalem Vorbild wäre eine christdemokratische Geschlechterpolitik darauf aus, strukturelle Benachteiligungen zu benennen und zu beseitigen, aber nicht Ergebnisse nach bestimmten Quoten zu schaffen. Insofern haben Sie, Herr Ziemiak, völlig Recht. Geschlechter- und Familienpolitik ist eine Grundströmung, aus der viele gesellschaftliche Konflikte erwachsen, denen sich aber die Union im Grunde im Sinne einer konstruktiven und differenzierten Diskussion viel zu wenig geöffnet hat.
Kelle: Ich glaube, die Frage, wie wir als Männer und Frauen in diesem Land zusammenleben, ist ein entscheidender Faktor für unsere Gesellschaft. Wir stellen ja fest, dass diese Gesellschaft sich im Wandel befindet. Wir haben nicht mehr dasselbe Zusammenleben wie noch vor 50 Jahren, was weder gut noch schlecht ist, sondern ein Fakt. Geschlechterrollen wurden aufgebrochen, die klassische Versorgerehe wie in den Sechzigerjahren gibt es fast nicht mehr. Das wird weder von den Männern noch von den Frauen so gewünscht. Gleichzeitig stellen wir aber fest, dass die neuen Rollen noch nicht gefunden sind. Wir leben also im Moment in einem gesellschaftlichen System, in dem alte Gewissheiten aufgebrochen wurden, die auch neue Möglichkeiten geschaffen haben, wir aber noch nicht wissen, was wir mit diesen Möglichkeiten anfangen wollen oder ob sie uns überhaupt gefallen. Gleichzeitig kennen wir auch die Sehnsucht der Jugend, die sich als Rudeltiere wahrnehmen, nach dem Zusammenhalt einer funktionierenden Familie weitab von Patchwork. Die Frage ist nun, was von der Politik gefördert wird und wo sie auf die Menschen eingeht. Wir reden viel von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder der „Life-Work-Balance“ und ich stelle fest, dass wir nur von einem Extrem ins andere fallen. Wofür steht die CDU in diesem Zusammenhang? Wo sind die Alleinstellungsmerkmale, die eine CDU-Familienpolitik vom politischen Mitbewerber unterscheiden? Wir sind vom Extrem der nicht berufstätigen Hausfrau in die unbedingt berufstätige Mutter gekommen. Hier macht sich ein Vakuum breit, das gerade bei der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft eine große Nachfrage nach Lösungen auslöst, die dazwischen liegen. Wir reden viel über „Diversity“ – Vielfältigkeit, setzen aber bei der Familienpolitik nur auf staatliche Betreuung in Institutionen, die von staatlichen Trägern angeboten werden. Dazwischen gibt es fast nichts. Die Betreuungsgelddebatte hat dies einmal eruptiv gezeigt, sozusagen als Lackmustest für die Gesellschaft – „Bist du für ein modernes Familienbild oder stehst du für das Heimchen am Herd?“ Mütter, die ihre Kinder zu Hause betreuen als „Heimchen“ zu bezeichnen, war Sexismus pur. Der Feminismus war aber nicht zur Stelle, weil er dieselbe Meinung vertrat. Hier eine Breite aufzuzeigen, zwischen der berufstätigen Mutter und Eltern, die für sich andere Lösungen sehen, wäre Aufgabe der CDU, weil uns jedes Kind und jede Familie gleich viel wert ist. Diese Work-Life-Balance ist für Familien mit Kindern anders als für Menschen ohne Kinder. Ein Alleinstehender muss seine Work-Life-Balance nur mit sich ausmachen. Jemand, der Kinder hat, hat auch deren Bedürfnisse im Blick und die haben andere Bedürfnisse als der Arbeitsmarkt. Da ist dann auch keine Allianz mehr zwischen Feminismus und den Müttern. Denn die alleinstehende Karrierefrau wird in diesem Land unterstützt, das soll sie auch – als Mutter von vier Kindern benötige ich ganz andere Unterstützung, fühle mich aber oft wie im Regen stehen gelassen. Deshalb wäre es mir wichtig, dass die CDU Instrumente schafft, die auf mehr Eigenverantwortung bei den Familien setzt.
Ziemiak: Diese Debatten spielen für Sie als Unternehmerin welche Rolle?
Röser: Auch bei den Unternehmen entstehen neue und flexible Modelle, denen ein Umdenken vorausgeht. Wir haben das Thema Fachkräftemangel. Natürlich wollen wir deshalb vermehrt Frauen in den Arbeitsmarkt bekommen. Aber es bedarf eines Umdenkens in den Unternehmen, vor allem mit Blick auf junge Familien. Ich bin der Meinung, es darf für alle Beteiligten keine Ausnahme mehr sein, Familie und berufliches Fortkommen zu vereinen. Gerade die Digitalisierung bietet uns große Chancen der Gestaltung. Als Verbandsvorsitzende freut es mich zudem, dass die Nachfolge in den Familienunternehmen immer weiblicher wird. Dadurch kommen ein neuer Spirit und ein erweiterter Blickwinkel in die Unternehmen, von denen alle profitieren. Für mich ist es dabei wichtig, dass Mitarbeiter sich verwirklichen können. Da haben gerade Familienunternehmen noch die Kultur, dass sie ihre Mitarbeiter kennen. Struktur, Bedingungen und Regularien müssen aber stimmen, um mehr Flexibilität möglich zu machen. Von Seiten der Unternehmer wären wir natürlich auch für kostenfreie Kitas, um Eltern mehr Möglichkeiten zu bieten, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Die Kita-Gebühren sind teilweise so horrend hoch, dass Familien wirklich rechnen müssen, ob es sich lohnt, ein Kind in die Obhut zu geben um dann arbeiten zu gehen. Das kann auch Sicht der Unternehmer nicht der Weg sein, weil wir sonst dieses Potenzial nicht heben können. Gerade auch wegen der Selbstverwirklichung wäre das sehr wichtig.
Kelle: Ich halte es für den falschen Weg, auf eine kostenfreie Kita zu setzen, weil ich das nicht für sozial halte. Eltern, die ihre Kinder selbst großziehen, sollten wenn, dann eine Kompensation erhalten. Warum sollen Familien, die es sich leisten können, ihr Kind in die Kita zu geben, diese Betreuung vom Staat geschenkt bekommen? Warum sollte der Arzt den Kita-Platz genauso kostenfrei bekommen wie die Bäckereifachverkäuferin?
Ziemiak: Weil es um das Kind geht und nicht um den Arzt.
Kelle: Warum bekommen dann aber die 60 Prozent der Eltern, die ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren noch immer selbst betreuen, keine Unterstützung für diese Erziehungsleistung, die sie in den eigenen vier Räumen leisten? Anders herum: Die Familie, die ihre Kinder klassisch groß zieht und Steuern zahlt, zahlt mit ihren Steuern auch die Betreuung der anderen Kinder, wird gleichzeitig selbst aber nicht gefördert. Das halte ich für ungerecht.
Rödder: Das Ganze ist auch deshalb extrem kompliziert, weil hierbei bedacht werden muss, wer tatsächlich was bezahlt, wenn bspw. die berufstätige Mutter, die eine kostenfreie Kita in Anspruch nimmt, ihrerseits wieder höhere Steuern zahlt. Ein Politikansatz im Sinne einer umfassenden Familienpolitik müsste mehr von den Familien ausgehen. Es müssten also alle Eltern Unterstützung erfahren, weil die Erziehung von Kindern, und Kinder überhaupt zu haben, den entscheidenden Wert für eine Gesellschaft darstellt. Was das für die politischen Instrumente im Einzelnen heißt, ist die nachgeordnete Frage. Der Kulturwandel läge also darin, von den Kindern auszugehen.
Grünewald: Wir führen hier ja auch eine Wertedebatte. Auf der einen Seite habe ich den „gezähmten Mann“, der keine Roll-Back-Bewegung machen will, auf der anderen Seite, wenn wir über Frauen und Mütter reden, sprechen wir von der „Schuldfalle“. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Egal, wie die Frau und Mutter sich aufstellt, sie landet in dieser Schuldfalle. Hat sie keine Kinder und ist beruflich erfolgreich, wird ihr vorgeworfen, ihren mütterlichen Pflichten nicht nachzukommen. Macht sie beides, wie Frau von der Leyen, gilt sie schlechthin als Rabenmutter, weil sie Kindern und Familie Zeit entzieht. Bleibt sie nur zu Hause, wird sie als die Glucke abgestempelt.
Kelle: Ich würde Sie mal kurz unterbrechen. Ich habe jetzt ein paar Mal den Begriff „nur zu Hause bleiben“ von Ihnen gehört. Das lässt bei mir immer den Puls steigen. Deshalb schätze ich die Formulierung, ich hätte meine Kinder selbst großgezogen. Und das ist Arbeit.
Grünewald: Ich zitiere im Grunde nur die Schuldfalle, in die Sie gerade hineingetappt sind. Natürlich ist es ein Wert, Kinder großzuziehen. Aber diese Werte-Debatte wird nicht offen geführt und weil das so ist, hat jeder am Ende den Schwarzen Peter. Sie fühlen sich jetzt betroffen, weil sie glauben, dass Ihre Art zu leben zu einer Abwertung führt. Eine kinderlose Frau fühlt sich demgegenüber genauso abgewertet, und die Berufstätige mit Kindern sitzt genauso in dieser Schuldfalle.
Kelle: Viele Probleme leiten sich ab aus der Frage, ob wir zu schätzen wissen, was Familien leisten oder nicht. Angefangen beim demografischen Wandel, den wir gerne als Chance bezeichnen, tatsächlich aber ein Drama ist, weil nicht genügend Kinder geboren werden. Dies führt dann wiederum zum Fachkräftemangel, was zur Betreuung in Kitas führt, damit wir diese Kohorte der Mütter für den Arbeitsmarkt gewinnen. Übrig bleiben Frauen in der Altersarmut, denen man sagt, sie wären besser mal arbeiten gegangen. Unsere Geringschätzung von familiärer Leistung führt zu ganz anderen Problemen. Wir diskutieren immer noch die Ungerechtigkeiten zwischen Männer und Frauen. Ich glaube, dass das inzwischen ein irrelevanter Faktor ist. Kinderlose und berufstätige Frauen haben kaum mehr finanzielle Nachteile oder auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Männern. Wenn ich aber als Mutter Verantwortung für meine Kinder übernehme, bin ich als Erwerbskraft eingeschränkt und habe dadurch Konsequenzen, die sich aber nicht auf den Mann verschieben lassen. So lange das Großziehen von Kindern ein finanzielles Risiko darstellt, werden wir die Familienpolitik nicht verändern.
Ziemiak: Ich denke, dass politische Maßnahmen und finanzielle Anreize kaum eine Rolle spielen, ob Menschen sich für oder gegen Kinder entscheiden. Wir sehen, dass mit steigendem Einkommen und finanzieller Unabhängigkeit die Zahl der Kinder nicht steigt, sondern sogar zurückgeht. Neulich gab es eine Befragung, warum sich Menschen noch nicht oder gar nicht für eigene Kinder entschieden haben. Auf Platz eins der Antworten stand das Misstrauen in den Bestand der eigenen Beziehung.
Kelle: Deswegen steigt die Geburtenrate auch sofort schlagartig an bei verheirateten Frauen. Wenn die Geburtenrate tatsächlich signifikant erhöhen wollten, müssten wir eine Kampagne machen mit dem Slogan „Heiratet jetzt“.
Serrao: Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Stichwort nennen: Parität. Es gibt in einigen Bundesländern, wie in Brandenburg, erste Paritätsgesetze. Wenn man sich die Berichte der rechtlichen Prüfer hierzu genauer anschaut, stehen einem die Haare zu Berge. Ich gehe davon aus, dass die meisten dieser Gesetze vom Verfassungsgericht wieder kassiert werden. Aber hat denn eigentlich die Union dazu eine geschlossene Haltung?
Ziemiak: Ziel der der Union ist sicher, dass Frauen deutlich mehr an den politischen Entscheidungsprozessen teilhaben werden. Wir führen gerade eine Debatte darüber, wie so etwas aussehen kann. Bisher liegen aber noch keine Vorlagen vor, die man ernsthaft im Lichte des Verfassungsrechts diskutieren könnte. Wenn Sie mich nun konkret fragen, ob man bspw. in den Wahlkreisen jeden zweiten Platz mit einer Frau besetzen soll …
Serrao: Das wäre die Frage.
Ziemiak: Dann würde ich sagen: Nein. Das hielte ich für den falschen Ansatz und in vielen Fällen auch für nicht umsetzbar. Stellen Sie sich einmal die Situation vor, dass Sie Kraft Geburt oder des regionalen Aufwachsens als Frau keine Möglichkeit hätten, für den Bundestag zu kandidieren, weil in den benachbarten Wahlkreisen bereits durch Zuteilung zwei Frauen kandidieren, und dieser besagte Wahlkreis deshalb für einen Mann vorgesehen ist.
Rödder: Mit der Parität ist es viel leichter gesagt und weniger sauber durchdacht. Wir leben in einem politischen System, in dem die Rekrutierung von Wahlämtern über die politischen Parteien stattfindet. Ob falsch oder richtig, einstweilen ist es so. Wenn aber die CDU zu 26,3 Prozent weibliche Mitglieder hat, stellt sich die Frage, ob dann eine Repräsentation von 50 Prozent der Wahlämter angesichts 26,3% der Mitgliedschaft repräsentativ wäre. Ich will weder das eine noch das andere behaupten, nur sagen: Ganz so eindeutig ist es für mein Dafürhalten mit der Parität und der Quote nicht.
Ziemiak: Das Gegenargument wäre der Anteil an der Bevölkerung.
Rödder: Ja, und dies bricht am politischen System und dem Anteil an der dortigen Repräsentanz. Man könnte genauso argumentieren, dass der Anteil an der Mitgliedschaft angesichts der Mechanismen unseres politischen Systems so relevant wäre wie der Bevölkerungsanteil. Man dann also durchaus unterschiedliche Referenzgrößen ins Spiel bringen. Zweitens glaube ich nicht, und hier bin ich mit vielen Vertreterinnen der Parität in der CDU deutlicher unterschiedlicher Auffassung, dass der Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes ein Sonderrecht für Frauen für paritätische Repräsentationen begründen kann. Dort heißt es, dass Männer und Frauen nicht nur gleichberechtigt seien, sondern der Staat auch auf die Beseitigung bestehender Benachteiligungen hinwirkt. Hier stellt sich die Frage: Liegt die Benachteiligung darin, dass Frauen zu weniger als 50% Wahlämter haben oder liegt sie darin, was die Politikwissenschaftlerin Suzanne Schüttemeyer als Selbstdiskriminierung bezeichnete, weil sie nicht ausreichend in Parteien eingetreten sind? Eine paritätisch quotierte Regelung geht jedenfalls aus besagtem Artikel des Grundgesetzes nicht hervor. Wenn Frauen nun diesen Anspruch erheben, könnten ihn mit demselben Recht auch andere Gruppen, die aufgrund von Identitätsmerkmalen eine Repräsentation beanspruchen, ebenso geltend machen – Migranten, Unter-30-Jährige, Über-60-Jährige. Auch Arbeiter könnten sagen, sie seien im Deutschen Bundestag unterrepräsentiert, ebenso wie Homosexuelle. Ich glaube nicht, dass der Faktor Geschlecht letztendlich einen Sonderstatus für sich einfordern kann. Darüber hinaus fürchte ich, dass wir damit auf dem Weg wären in eine neue quotierte Ständegesellschaft, die einer liberalen Wettbewerbsgesellschaft widerspricht. Für mich ist das ein Punkt, wo eine liberal- oder bürgerlich-konservative Politik auf Chancengleichheit und nicht auf Ergebniskonstruktion setzen sollte. Das widerspricht vehement einer liberalen Gesellschaft.
Kelle: Ich vermute, die meisten Menschen verstehen gar nicht, wie diese Begriffe in den Wandel geraten sind. Hatte man früher ganz selbstverständlich von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gesprochen, hört man heute allerorten „Gleichstellung“. Wir sollten mit Blick auf die Schulen, in denen es inzwischen viel mehr Möglichkeiten für Mädchen gibt als früher, alle an die Startblöcke stellen. Ob sie dann aber loslaufen, nach hinten, nach vorne und vor allem wie schnell, hängt oft mit der Veranlagung und auch mit der persönlichen Lebensentscheidung zusammen. Wenn man dann nicht auf 50 Prozent Parität kommt, ist nicht unbedingt Diskriminierung der Grund, sondern vielmehr persönliche Entfaltung und Lebensentwürfe. Und das ist legitim.
Rödder: Der entscheidende Unterschied, und hier könnte eine christdemokratische Geschlechterpolitik ansetzen, ist die Feststellung, ob es sich um eine strukturelle Benachteiligung handelt, die beseitigt werden müssen, ober sind es freie Entscheidungen, die zu ungleichen Ergebnissen führen? Das wäre aus einer liberalen und christdemokratischen Sicht absolut in Ordnung.
Kelle: Dann müssen wir es als Gesellschaft auch aushalten, dass die Lebensentwürfe der Menschen vielfältig sind. Diese Vielfalt von Lebensentwürfen, von der wir immer reden, sollten wir als CDU den Familien dann aber auch zugestehen, statt einseitig Geld nur in strukturelle Fremdbetreuung zu stecken. Denn wenn alle gleich leben, ist es nicht mehr vielfältig, sondern, ehrlich gesagt, ganz schön eintönig … Das war das Schlusswort.
Ziemiak: Mit Blick auf die Uhr ... Meine Damen und Herren, ich muss an dieser Stelle leider abbrechen.
Rödder: Wir sind doch gerade erst in Fahrt gekommen.
Ziemiak: Das stimmt. Und wir werden sicherlich Gelegenheit finden, dieses Gespräch an anderer Stelle wieder aufzugreifen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Teilnahme.