Merkel: "Wir brauchen einen langen Atem"
„Ich verstehe, dass viele Menschen Sorgen vor einer militärischen Konfrontation haben“, machte die CDU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit Blick auf die Ukraine-Krise in einem Interview mit der „Freien Presse“ deutlich. Deshalb habe sie von Beginn an ein militärisches Eingreifen ausgeschlossen und arbeite weiterhin für eine diplomatische Lösung. Dennoch plädiert sie dafür, „dass wir Unrecht und Rechtsbruch nicht einfach geschehen lassen“. Die Annexion der Krim dürfe nicht akzeptiert werden. „Wir leben in Europa deshalb schon seit Jahrzehnten in Frieden, weil wir die Grenzen jedes Staates respektieren“, so Merkel weiter. „Wir werden einen langen Atem haben müssen“, sagte sie und zog eine Parallele zur Teilung Deutschlands: „Die deutsche Teilung bestand auch 40 Jahre lang, wurde von der alten Bundesrepublik nie akzeptiert und wurde am Schluss friedlich überwunden.“
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Freie Presse: Frau Bundeskanzlerin, viele unserer Leser glauben, dass sowohl die Politik als auch wir als Medien ein anti-russisches Bild vom Konflikt in der Ukraine zeichnen. Wie erklären Sie sich diese Skepsis?
Angela Merkel: Ich verstehe, dass viele Menschen Sorgen vor einer militärischen Konfrontation haben. Deshalb habe ich von vornherein ein militärisches Eingreifen ausgeschlossen und arbeite für eine diplomatische Lösung. Dennoch plädiere ich dafür, dass wir Unrecht und Rechtsbruch nicht einfach geschehen lassen. Die Annexion der Krim darf nicht akzeptiert werden. Wir leben in Europa deshalb schon seit Jahrzehnten in Frieden, weil wir die Grenzen jedes Staates respektieren.
Freie Presse: Ist die Annexion der Krim nicht längst schon international akzeptiert?
Merkel: Nein. Weder die EU noch die G7 haben diesen Rechtsbruch akzeptiert. Wir werden einen langen Atem haben müssen, aber die deutsche Teilung bestand auch 40 Jahre lang, wurde von der alten Bundesrepublik nie akzeptiert und wurde am Schluss friedlich überwunden.
Freie Presse: De facto war die Teilung schon akzeptiert - seit den siebziger Jahren mit dem Grundlagenvertrag und der Aufnahme beider Staaten in die Vereinten Nationen.
Merkel: Da widerspreche ich. Es gab keine volle Anerkennung der DDR durch die alte Bundesrepublik; und jeder ausgereiste DDR-Bürger erhielt automatisch die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft.
Freie Presse: Die Russland-Sanktionen im Zuge der Ukraine-Krise machen den sächsischen Maschinenbauern große Sorgen. Wie kann man den Firmen helfen?
Merkel: Die Probleme sind mir bewusst, ein umfassendes Bild der konkreten Auswirkungen haben wir aber noch nicht. Mögliche Unterstützung wird sich an früheren vergleichbaren Fällen, etwa den Iran-Sanktionen orientieren. In manchen Fällen können auch Hermesbürgschaften helfen.
Freie Presse: Sie sind an diesem Wochenende in Kiew. Was wollen Sie erreichen?
Merkel: Ich möchte mich über die Situation vor Ort informieren, zum Beispiel mit Bürgermeistern aus den verschiedenen Regionen des Landes sprechen. Politisch ist das wichtigste Ziel derzeit ein beidseitiger Waffenstillstand. Wir müssen erreichen, dass nicht weiter jeden Tag Menschen ihr Leben verlieren. Zugleich geht es darum, wie Deutschland die Ukraine unterstützen kann.
Freie Presse: Wie nämlich?
Merkel: Wir helfen ja schon im Rahmen internationaler Organisationen wie EU und Internationaler Währungsfonds. Was Deutschland noch tun kann, würde ich gerne erst mit den Ukrainern besprechen.
Freie Presse: Was kann die Ukraine zu einer Lösung beitragen?
Merkel: Jeder muss seinen Beitrag zu einem beiderseitigen Waffenstillstand leisten, der einen Friedensprozess einleiten kann. Darüber müssen Verhandlungen geführt werden. Besonders wichtig, aber bisher noch nicht gelungen, ist eine wirkungsvolle Kontrolle der ukrainisch-russischen Grenze, damit keine russischen Waffen mehr über die Grenze gelangen. Die Forderung an Präsident Putin bleibt bestehen, den russischen Einfluss für eine Stabilisierung der Lage in der Ostukraine zu nutzen.
Freie Presse: Sie und Russlands Präsident Wladimir Putin kennen sich seit vielen Jahren. Sind Sie eigentlich enttäuscht darüber, wie sich Putin derzeit in der Ukraine-Krise verhält?
Merkel: Enttäuschung - das ist in einem solchen Konflikt keine Kategorie für mich. Wir Deutsche haben allergrößtes Interesse am Frieden in Europa und an guten Beziehungen zu Russland. Als Bundeskanzlerin ist es meine Aufgabe, daran zu arbeiten, dass aus diesem Konflikt wieder ein vernünftiges Miteinander wird. Dafür setze ich mich ein - einfach ist es nicht.
Freie Presse: Werden Sie auch nach Moskau reisen?
Merkel: Im Moment gibt es keine konkreten Pläne dafür. Ich stehe aber in ständigem Kontakt mit dem russischen Präsidenten.
Freie Presse: Nützt es etwas in dieser Situation, dass Sie russisch sprechen und Putin deutsch?
Merkel: Es bedeutet, dass jeder von uns beiden das jeweils andere Land und dessen Kultur recht gut kennt und ein gewisses Grundverständnis dafür hat. Russisch ist eine schöne Sprache. Ich habe leider vieles verlernt, weil ich doch zu wenig Praxis habe.
Freie Presse: Wächst der Druck auf Deutschland, härter mit Russland umzugehen?
Merkel: Ich denke, wir haben das rechte Maß gefunden. Wir haben Sanktionen beschlossen, halten aber alle Gesprächskanäle offen. Ich spüre keinen Druck, lediglich die Verpflichtung, weiter für eine friedliche Lösung zu arbeiten.
Freie Presse: Hat der Druck auf Sie im Zusammenhang mit dem Vorrücken der irakischen Terrormiliz IS zugenommen? Die Bundesregierung hat diese Woche eine historische Entscheidung getroffen, erstmals scharfe Waffen an die irakischen Kurden zu liefern, also in ein Kriegsgebiet.
Merkel: Verschiedene Bundesregierungen haben seit 1990 viele wichtige Entscheidungen getroffen, die unser internationales Engagement verändert haben. Ich denke an die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und - aus deutscher Sicht sicher ein weitreichender Schritt - den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Im Zusammenhang mit dem Irak geht es nicht darum, deutsche Truppen zu entsenden. Wir werden vielmehr entscheiden, was wir in begrenztem Umfang denjenigen an Material liefern können, die im Nordirak die Terroristen bekämpfen.
Freie Presse: Was hat zu der Entscheidung geführt, Waffen an die Kurden zu liefern?
Merkel: Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass die Gräueltaten der IS und die terroristische Bedrohung durch den IS-Vormarsch so groß sind, dass wir handeln sollten. Die Exportrichtlinien für Rüstungsgüter geben der Bundesregierung einen Beurteilungsspielraum, den wir in diesem Fall auch ausschöpfen. Dabei stimmen wir uns eng mit unseren EU-Partnern und den USA ab. Wir werden gründlich prüfen, welche Waffen und Munition wir aus den Beständen der Bundeswehr liefern können.
Freie Presse: Dennoch ist der Beschluss ein historisches Novum in der deutschen Politik.
Merkel: Wie gesagt, es gab nach 1990 eine Reihe außenpolitischer Engagements, die zuvor undenkbar gewesen wären.
Freie Presse: Ihr Standpunkt scheint sich trotz allem nur innerhalb weniger Tage verändert zu haben. Vom Nein zum Ja.
Merkel: Meine Position und die der anderen Mitglieder der Bundesregierung hat sich herausgebildet unter dem Eindruck der Herausforderung, vor der wir stehen. Da ist zum einen die fast beispiellose Brutalität und Menschenverachtung, mit der IS Christen, Jesiden, auch Muslime verfolgt. Zum anderen wird immer klarer, welche Bedrohung darin für den Irak als Staat besteht und vielleicht noch für andere in der Region. Das hat zu der Frage geführt, was wir über humanitäre Hilfe und die Lieferung von Ausrüstung hinaus noch leisten können. Müssen und wollen wir noch einen Schritt weiter gehen? Lässt die Rechtslage in Deutschland diese Art von Waffenlieferungen zu? Wir haben das in der Bundesregierung intensiv diskutiert und sind dann zu dem Schluss gekommen, dass wir eine Grundsatzentscheidung für begrenzte Waffenlieferungen treffen. Die Einzelheiten dazu sind noch zu bestimmen.
Freie Presse: Was wird Deutschland tun, wenn die Waffen irgendwann in falschen Händen landen?
Merkel: Ich will nicht so tun, als bestehe dieses Risiko überhaupt nicht. Ein hundertprozentiges Ja oder Nein auf die Frage, ob wir mit unserer Entscheidung richtig liegen, gibt es nicht. Aber Tag für Tag von neuen schrecklichen Morden und massenhaften Vertreibungen zu hören, führt einen auch zu der Frage: Hat die Politik etwas versäumt? Welche Folgen wird es haben, wenn wir nicht handeln? Es ist eine schwierige Abwägung, bei der wir uns für begrenzte Waffenlieferungen entschieden haben.
Freie Presse: Angesichts eines Teils unserer neuen Verbündeten stellt sich die Frage: Ist es in einer solchen Situation wie aktuell im Irak notwendig, auch dem Teufel die Hand zu reichen? Die PKK, ein Teil der Kurden-Kämpfer, gilt in Deutschland als terroristische Vereinigung.
Merkel: Ich benutze solche Sprachbilder nicht. Wir liefern die Waffen an die kurdischen Peschmerga, also an die Kämpfer der Autonomen Region Kurdistan, und zwar mit Einverständnis der irakischen Zentralregierung. Ohne dieses Einverständnis der Zentralregierung wäre eine solche Lieferung rechtlich nicht möglich.
Freie Presse: Warum lässt die Regierung in einer so grundsätzlichen Frage nicht den Deutschen Bundestag entscheiden?
Merkel: Die Entscheidung über Lieferungen von militärischen Gütern aus den Beständen der Bundeswehr liegt in der Kompetenz der Bundesregierung. Ich werde in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag dazu Stellung nehmen.
Freie Presse: Werden irgendwann auch Bundeswehrsoldaten in den Nordirak entsandt?
Merkel: Eine Beteiligung der Bundeswehr an den militärischen Auseinandersetzungen wird es nicht geben.
Freie Presse: Helfen Ihnen in diesen Tagen Erfahrungen, die Sie vor 25 Jahren gesammelt haben, zur Zeit der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls?
Merkel: Ich habe damals gelernt: Man sollte an Veränderungen glauben. Viele Menschen haben Angst vor Veränderungen. Aber sie können etwas Gutes bringen, sie eröffnen oft völlig neue Horizonte. Das haben wir alle damals erlebt und diese Erkenntnis ist Teil meines Lebens.
Freie Presse: Sprechen Sie Ost- und Westdeutsche heute noch anders an?
Merkel: Ich habe immer darauf geachtet, dass ich im Osten über Politik nicht anders spreche als im Westen. Natürlich gibt es unterschiedliche Biografien. Wo man zur Schule gegangen ist, bleibt ein Unterschied zwischen Ost und West. Mein Grundton ist aber der gleiche. Für jüngere Menschen und erst recht für die, die nach dem Mauerfall geboren sind, spielen die Ost/West-Unterschiede ohnehin keine große Rolle mehr - und das freut mich.
Freie Presse: Gab es einen bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben, zu dem Sie aufgehört haben, sich als "Ossi" zu sehen?
Merkel: Nein, auch wenn es zunehmend an Bedeutung verliert, wird es doch immer ein Teil meines Lebens bleiben. Wenn ich mich mit Westdeutschen meines Alters unterhalte, dann sind die ersten 35 Jahre einfach völlig unterschiedlich geprägt. Darüber zu reden, kann gut und wichtig sein. Aber wenn es darum geht, wie wir für unser Land eine gute Zukunft schaffen, dann sind wir doch alle Deutsche und haben sehr ähnliche Wünsche.
Freie Presse: Jeder vierte Westdeutsche war noch nie im Osten. Was hat er verpasst?
Merkel: Sehr viel. Die wunderschöne sächsische Landeshauptstadt Dresden ...
Freie Presse: ...außer den touristischen Highlights?
Merkel: Kultur, Geschichte und Traditionen Deutschlands. Er hat verpasst, interessante Menschen kennenzulernen, deren Freiheitswillen eine Diktatur gestürzt hat. Wenn er als Student den Osten nicht kennt, entgehen ihm die hervorragenden Universitäten, die dort entstanden sind - auch in Chemnitz. Wer Deutschland kennen will, der muss sich einfach auch ausgiebig in den neuen Ländern umgesehen haben.
Das Interview stammt aus der Freien Presse vom 23. August 2014.