Interview von CDU-Generalsekretär Peter Tauber mit „Christ & Welt“
Die Pressestelle der CDU Deutschlands teilt mit: CDU-Generalsekretär Dr. Peter Tauber gab „Christ & Welt“ (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Raoul Löbbert.
Christ & Welt: Ist Martin Luther ein deutscher Held?
Peter Tauber: Absolut. Für mich ist er eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten, die die deutsche Geschichte zu bieten hat. Martin Luther hat Deutschland politisch, theologisch und kulturell geprägt wie kaum ein anderer. Zudem ist er mir als Protestant so nahe, wie Luther einem Protestanten nur nahe sein kann.
C & W: Aber wie vorbildhaft kann jemand sein, der seine Wahrheit über alles stellte, nie zu Kompromissen bereit war und seine Gegner als Antichristen beschimpfte? Von Luthers Ressentiments gegen Juden, Muslime, Sinti und Roma ganz zu schweigen.
Tauber: Keine Frage: Luther war ein Mann der Extreme, in der Liebe wie in der Verachtung. Letzteres kann und sollte man nicht kleinreden. Bloß: Man darf über den dunklen Seiten eben nicht die hellen vergessen.
C & W: Die da wären?
Tauber: Er hat Verständnis gehabt für die Stärken und Schwächen des Menschen. Jeder solle dem anderen ein Christus sein, hat er gepredigt. Martin Luther wollte die Gesellschaft, in der er lebte, barmherziger und im theologischen Sinne gleicher machen. Dafür bewundere ich ihn.
C & W: Aber diese Gleichheit galt nur für Christen, die seine Interpretation des Evangeliums teilten. Wer dazu nicht bereit war, war für Luther des Teufels, den wollte er wie die Juden vertreiben und ihm Haus und Synagoge anstecken.
Tauber: Für uns gehört die Erinnerung an den Holocaust zum Selbstverständnis. Diese historische Erfahrung hatte Luther nicht. Er konnte sich, allen einschlägigen Textstellen zum Trotz, die rassistisch begründete industrielle Massenvernichtung der Juden nicht vorstellen. Es ist immer schwierig, mit den Maßstäben unserer Gegenwart auf einen Menschen des 16. Jahrhunderts zu schauen.
C & W: Warum nicht? Wenn Luther ein deutscher Held ist, ein Vorbild für unser Gemeinwesen, müssen wir ihn nehmen, wie er ist. Und Luther war sicher kein Demokrat.
Tauber: Die Zahl der Demokraten im 16. Jahrhundert ist generell dünn gesät, oder? Aber hört er deshalb auf, ein Held zu sein? Es ist doch nicht so, dass Helden heute eine nach allen Seiten schimmernde Rüstung brauchen. Seit dem Ende des Dritten Reiches haben wir in Deutschland ein eher nüchternes Verhältnis zum Heldentum. Das ist einerseits gut, weil es uns unsere Geschichte realistisch sehen lässt, andererseits aber fehlt uns manchmal der kindliche Zugang zu den positiven Kapiteln der Geschichte. Persönlichkeiten wie Luther können uns Orientierung und Hoffnung geben. Sie wecken Begeisterung – warum sollte man dann nicht für sie schwärmen dürfen?
C & W: Weil kindliche Heldenverehrung gefährlich ist. Auch die Nationalsozialisten und die DDR haben für Luther geschwärmt und ihn zu ihrem Helden gemacht.
Tauber: Luther kann nichts dafür, dass die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts mit ihm Geschichtspolitik betrieben haben. Das Dritte Reich und die DDR haben sich ihren je eigenen Luther geschnitzt und aufs Podest gestellt. Sie haben ihn für ihre Zwecke missbraucht und sind ihm als Mensch und historische Persönlichkeit nie gerecht geworden.
C & W: Die totalitären Systeme konnten sich aber nur so leicht bei Luther bedienen, weil er totalitäre Züge hatte. Ist Luther nicht deshalb als Held für Deutschland verbrannt?
Tauber: Ich bin Historiker. Mein Doktorvater hat eine der wichtigsten Bismarck-Biografien seiner Zeit geschrieben. Haben danach die Historiker aufgehört, über Bismarck zu publizieren? Natürlich nicht. Sie sind mit den Fragen ihrer Zeit an diese ja auch nicht unumstrittene Figur der deutschen Geschichte herangegangen. Und so sollten wir es auch mit Luther halten. Wir dürfen ihn nicht angestaubt und verzerrt auf dem Podest stehen lassen, auf das ihn die beiden Diktaturen auf deutschem Boden gehoben haben.
C & W: Wenn Luther ein Held für Deutschland ist, auf welcher Seite, glauben Sie, wäre er bei den Dresdner Demonstrationen zur Verteidigung des Abendlands mitgelaufen, bei Pegida oder den Gegendemonstranten?
Tauber: Das ist für einen Historiker seriös nicht zu beantworten.
C & W: Und unseriös?
Tauber: Oberflächlich betrachtet finden Sie Sätze, die den islamkritischen bis -feindlichen Parolen bei Pegida vergleichbar sind, auch in Luthers Schriften. Doch er wäre zweifellos schockiert gewesen vom Antiklerikalismus und der radikalen Religionsfeindlichkeit, die bei den Protesten in Dresden und anderswo auch zum Ausdruck kamen und die in der Berichterstattung über Pegida meist unerwähnt geblieben sind. Diese hätte er als gottlos gegeißelt.
C & W: Die Demonstranten werfen den Politikern vor, sie seien haltungs- und gewissenlos. Ist an dem Vorwurf nicht etwas dran, wenn selbst überzeugte Christen im Bundestag den Glauben zur Privatsache erklären?
Tauber: Nicht jeder Christ im Bundestag spricht gerne über seinen Glauben, das ist wahr. Für mich jedoch ist mein Glaube wichtig. Er hilft mir, im politischen Tagesgeschäft Demut zu bewahren. Und er gibt mir die Gewissheit, dass man auch mal scheitern darf.
C & W: Luther hätte für die privaten Christen im Bundestag sicher nur Hohn und Spott übrig gehabt – vor allem, wenn sie in der Fraktion einer Partei sitzen, die das C im Namen führt.
Tauber: Warum hat Luther auf Deutsch geschrieben? Weil er alle Menschen erreichen wollte. Das müssen Parteien und Politiker auch. Das C im Parteinamen spricht nach wie vor viele Christen in unserem Land an, ist als Chiffre für bestimmte Werte aber auch vielen anderen Menschen wichtig, die keiner christlichen Konfession angehören. Eben weil diese Werte teils universellen Charakter haben, teils unser Land prägen. Deswegen müssen Christdemokraten nicht zwingend jeden Tag über ihren Glauben reden.
C & W: Hören Sie Luther nicht auch aus den Tiefen der Geschichte poltern: Bekehrt euch, ihr Sünder, oder ihr landet alle in der Hölle?
Tauber: Als Reformator darf er poltern. Ein Volksvertreter aber muss sich fragen, welches Volk er vertritt – und nicht, welches er vertreten möchte.
C & W: Dann aber wäre Luther heute der richtige Held zur falschen Zeit.
Tauber: Luther war im Sinne Max Webers sicherlich mehr Gesinnungs- als Verantwortungsethiker. Er glaubte an die Wahrheit des Evangeliums, die sich ihm zuvor erschlossen hatte. Sie machte ihn aus, erfüllte ihn und gab ihm die Festigkeit im Glauben, seine Wahrheit gegen alle Widerstände und unter Einsatz seines Lebens zu verteidigen. Das kann nicht jeder.
C & W: Aber auch Verantwortungsethiker wie Sie können ein Gewissen im Sinne Luthers haben: Es macht einen abhängig von der Wahrheit, aber unabhängig von weltlicher Macht. Stimmen Sie zu?
Tauber: Natürlich. In der Politik gibt es wie in allen Bereichen des Lebens immer wieder Gewissensentscheidungen. Und die müssen nicht immer extra als solche gekennzeichnet sein. Ich selbst beispielsweise bin im Bundestag mehrmals aus der sogenannten Fraktionsdisziplin ausgeschert. Und danach ist mir nichts Schlimmes passiert – ich wurde dennoch Generalsekretär der CDU.
C & W: Luther wäre begeistert. Er hatte viel Verständnis für zivilen Ungehorsam.
Tauber: Ja, das hatte er. Zumindest wenn es um ihn selbst ging.
C & W: Denken Sie, Luther hätte seine Kirche verrammelt, wenn vor der Tür Flüchtlinge gestanden und um Asyl gebeten hätten?
Tauber: Ich weiß es nicht. Ich bin nicht Luther.
C & W: Innenminister de Maizière hat das Kirchenasyl jüngst mit der Scharia verglichen. Deutschland könne religiöse Sonderrechte nicht dulden. Fanden Sie den Vergleich gelungen?
Tauber: Ich mache mir den Vergleich des Innenministers nicht zu eigen.
C & W: Fanden Sie den Vergleich als Verantwortungsethiker vertretbar?
Tauber: Ich würde diese beiden Dinge nicht miteinander vergleichen.
C & W: Und was halten Sie als Parteifreund de Maizières vom Kirchenasyl?
Tauber: Es handelt sich dabei um eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Zum Glück reden wir bislang von Einzelfällen. Wenn jedoch Gemeinden die Tore im wahrsten Sinne des Wortes aufmachen würden und in großer Zahl Flüchtlinge aufnehmen und einer juristischen Überprüfung ihres Wunsches auf Asyl entziehen sollten, kann das der Staat nicht dulden. Dann wäre der Rechtsstaat infrage gestellt.
C & W: Die Verhältnismäßigkeit hätte Luther wohl kaum interessiert. Er hätte gesagt: Das Gewissen lässt sich nicht quotieren – basta!
Tauber: Mag sein, aber wie bereits festgestellt: Ich bin nicht Luther. Ich vertrete die staatliche Ordnung, und mit der ist der Reformator bisweilen in Konflikt geraten.
C & W: Und was denkt der Protestant, kann der den protestantischen Pfarrer verstehen, der aus Barmherzigkeit Flüchtlingen Asyl gewährt?
Tauber: Ja, das kann er.
C & W: Und kann es der Verantwortungsethiker mit seinem Gewissen vereinbaren, dem Pfarrer zu sagen, dass er seine Barmherzigkeit nicht dulden kann?
Tauber: Auch das.
C & W: Was sind denn Gewissensfragen für Sie? Ist das Einwanderungsgesetz, das Sie gerne hätten für Deutschland, so eine Gewissenssache?
Tauber: Das ist ein tagespolitisches Anliegen, von dem ich zutiefst überzeugt bin, das aber, ohne es kleinreden zu wollen, nicht die existenzielle Dimension besitzt wie Luthers Einsicht in das Gottesgeschenk der Gnade und alles, was daraus für ihn folgte.
C & W: Und was ist mit dem Lebensschutz? Da geht es für jeden Christen normalerweise ans Eingemachte.
Tauber: In der Tat bin ich der Meinung, dass hunderttausend abgetriebene Kinder pro Jahr uns als Gesellschaft nicht kaltlassen dürfen.
C & W: Warum sagen Sie nicht, Abtreibung ist Sünde und gehört verboten? Luther wäre nicht so zimperlich.
Tauber: Warum sollte ich? Die Rechtslage ist eindeutig. Abtreibung ist nach wie vor verboten. Sie wird nur nicht mehr bestraft. Der Staat nimmt also immer noch eine klare moralische Wertung vor.
C & W: Nur merkt das kaum noch jemand. Gehört Abtreibung deshalb nicht doch verboten?
Tauber: Dafür gibt es derzeit keine Mehrheit, und ich sehe auch niemanden, der das fordert. Davon abgesehen: Wenn wir über Abtreibung reden, sprechen wir von persönlichen Schicksalen, und ich scheue mich, über Frauen den Stab zu brechen, die sich in einer Notlage zu diesem Schritt entschließen. Wir tun dem Lebensschutz heute keinen Gefallen, wenn wir ihn mit erhobenem Zeigefinger einfordern. Wir sollen uns lieber fragen, was wir als Gesellschaft tun können, damit Paare sich für ein Kind entscheiden und es als Bereicherung annehmen.
C & W: Ihren Helden haben Mehrheiten nie interessiert. Luther ging es um die Durchsetzung der Wahrheit.
Tauber: Beim Glauben gibt es eben nur eine Wahrheit. In der Demokratie geht es um Mehrheiten.
C & W: Stimmt. Er konnte ja nicht mal seine Wahrheit in seiner Zeit durchsetzen. Statt die Kirche zu reformieren, hat er sie gespalten. Warum müssen Katholiken am 31. Oktober 2017 mitfeiern beim bundesweiten Reformationsfeiertag?
Tauber: Auch die katholische Kirche hat sich geändert und ändert sich weiter, wie der aktuelle Papst zeigt. Es haben sich in der Gesellschaft mittlerweile antireligiöse und kirchenfeindliche Vorurteile verbreitet, wie ich es noch vor Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Umso wichtiger ist es für beide Kirchen, öffentlich für das einzustehen, was sie verbindet – und auch selbstkritisch zu sein. Und da kann der Reformationstag 2017 ein Anlass sein.
C & W: Aber die Kirchen tun so, als gäbe es keine Unterschiede mehr. Der EKD-Ratsvorsitzende etwa hat den Papst zum Reformationsgedenken eingeladen. Ist das nicht absurd? Für Luther war der Papst noch der Antichrist.
Tauber: Ein Freund von mir meinte letztens sehr zugespitzt: Wenn Luther heute leben würde, könnte er mit Papst Franziskus und der Kirche, die dieser sich vorstellt, mehr anfangen als mit seiner eigenen. Vielleicht ist da etwas dran. Die evangelische Kirche steht heute für einen ausgeprägten Pluralismus und eine Liberalität, mit der Luther vermutlich nicht in jedem Punkt etwas anfangen könnte. Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus dagegen stehen jeder für sich mit einer Klarheit für die christliche Botschaft ein, die Luther gefallen hätte. Und sie gefällt auch mir.
C & W: Werden Sie doch katholisch.
Tauber: Ich bin und bleibe Protestant. Und außerdem gibt es da in der katholischen Kirche noch ein paar Dinge …
C & W: Und dennoch flirten Sie mit dem Katholizismus. Ihrer Homepage entnehme ich, dass Benedikt XVI. ihr favorisierter Partner für ein Abendessen zu zweit wäre. Warum ausgerechnet der und nicht Franziskus?
Tauber: Als ich den Bogen ausgefüllt habe, war noch Benedikt XVI. im Amt. Aber unabhängig davon halte ich den früheren Papst für eine herausragende intellektuelle Persönlichkeit unserer Zeit.
C & W: Und während Sie dort mit dem Antichristen speisen, dreht sich Luther mit Lichtgeschwindigkeit in seiner Wittenberger Gruft. Müssen wir Mitleid mit dem Reformator haben?
Tauber: Für Mitleid gibt es keinen Grund. Niemand bestreitet, dass Luther einer der wichtigsten Deutschen ist. Und diese Wertschätzung genießt er nicht nur bei Protestanten.
C & W: Wertschätzung ist aber ein bisschen wenig für einen Helden.
Tauber: Es ist das Mindeste. Aber zugegeben: Bei Martin Luther gibt es in Sachen Wertschätzung noch reichlich Luft nach oben.