
„Wir sollten Verschwörungshass frühzeitig entgegentreten“
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Interview mit Dr. Michael Blume, Antisemitismusbeauftrager der Landesregierung Baden-Württemberg
Herr Blume, es waren noch nie so viele seriöse Informationen frei zugänglich wie heute. Trotzdem scheinen Verschwörungsmythen Zulauf zu haben. Woran liegt das?
Gerade wenn uns die Komplexität der Welt überfordert, greifen wir alle auf Bilder und Mythen zurück. Den meisten von uns gelingt es ganz gut, ein aufgeklärtes Vertrauen zueinander, zur Wissenschaft und auch zu den gewählten Regierungen zu fassen. Aber leider fallen viele Menschen, die ohnehin zum Verschwörungsglauben neigen, auf Verschwörungsmythen herein. Schon der große Philosoph Karl Popper hatte davor gewarnt, dass „Verschwörungstheorien“ eigentlich gar nicht wissenschaftlich, sondern „Aberglaube“ wären. Aus heutiger Sicht hatte er damit Recht: Während die meisten von uns glauben, dass die Welt trotz allem ein guter Ort ist, wir einander, den Wissenschaften, vielleicht auch Gott insgesamt vertrauen können, glauben Verschwörungsgläubige an die Weltherrschaft des Bösen. Das führt dann leider oft auch zu Radikalisierung und Verhalten, mit denen die Betroffenen sich selbst und andere gefährden.
Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen sieht man Akademiker neben Qanon-Anhängern, Esoteriker neben Rechtsextremisten. Was verbindet diese Leute?
In Zeiten von Pandemien – also für das bloße Auge unsichtbaren Krankheitserregern mit gravierenden Folgen – sind Verschwörungsmythen immer wieder explodiert. Es kam, gerade auch hier in Süddeutschland, sogar immer wieder zu Pestpogromen gegen Zugezogene, gegen Roma und Sinti, gegen Ärzte und jüdische Gemeinden. Ganze Synagogen wurden ausgelöscht. Heute ist es längst nicht mehr so schlimm, die allermeisten Menschen lehnen Antisemitismus, Rassismus und erst Recht Gewalt ab. Aber diejenigen, die Covid19 für eine Verschwörung halten, glauben auch heute nicht an eine Weltverschwörung der Brasilianer oder Quäker. Stattdessen greifen sie auf das uralte Feindbild einer Weltverschwörung aus Juden, Geheimbünden und Frauen zurück. Und dann bilden sie eine Querfront von Reichsbürgern über linke Esoterikerinnen bis zu staatskritischen Libertären, die nur durch Verschwörungsmythen und das gemeinsame Feindbild verbunden sind. Gerade dadurch aber polarisieren und erschweren sie seriöse, auch kritische Debatten. Ich bin mir ganz sicher, dass unsere Republik diesmal standhalten wird – aber wir sollten Verschwörungshass dennoch frühzeitig entgegentreten.
Sie haben die Protestbewegungen gegen die Corona-Maßnahmen als „glokalistische Gruppen“ bezeichnet. Was verstehen Sie darunter?
In einer vereinfachten Vorstellung wird die ganze Welt einheitlich „globalisiert“. Tatsächlich aber betreffen beispielsweise technologische und wirtschaftliche Veränderungen zum Beispiel eine Hafenstadt ganz anders als eine Landgemeinde mit einer alten Industrie. Die echte Auseinandersetzung mit Globalisierung findet also immer vor Ort statt – in den Familien, Ortschaften und Städten. Wenn wir in Deutschland nicht so einen starken Föderalismus mit Kommunal- und Landespolitik hätten, dann hätten wir auch in Berlin längst wütend randalierende „Gelbwesten“ wie zuvor in Frankreich.
Allerdings verschwinden auch bei uns die regionalen und lokalen Zeitungen, so dass immer weniger Menschen von Kommunal- und Landespolitik überhaupt erfahren. Entsprechend nimmt die Wahrnehmung zu, dass „die da oben“ in den Hauptstädten Politik betrieben, die vermeintliche „Provinz“ aber überhört würde. Auch hier in Baden-Württemberg haben manche Menschen das Gefühl, dass Medien und Politiker aus Berlin auf uns herabschauen. Das lässt sich somit leider von Populisten in Südwestdeutschland besonders leicht ausbeuten. Und prompt bildete sich die erste, sogenannte Querdenken-Bewegung um die Telefonvorwahl von Stuttgart, 0711.
Sei selbst rufen im Internet zur Teilnehme an Gegendemonstrationen gegen Inititiativen wie „Querdenken“ auf. Warum?
Nachdem die sogenannten „Querdenker“ in Berlin allen Ernstes eine „verfassungsgebende Versammlung“ gegen unser Grundgesetz ausgerufen hatten und damit selbstverständlich gescheitert waren, kündigten sie ganz glokalistisch an, in Konstanz und um den Bodensee aufzumarschieren. Und um vom Antisemitismus in ihren Reihen abzulenken, forderten sie mich auf, bei ihrer Kundgebung dort zu sprechen. Meine Antwort darauf war: Selbstverständlich spreche ich gerne im bedeutsamen Konstanz – aber nicht auf Seiten der Verschwörungsverkünder, sondern auf Einladung der jüdischen Gemeinden und demokratisch Gewählten der Stadt. Unsere Demokratie genießt in der Bevölkerung breite Zustimmung und unsere Stadträte, Bürgermeisterinnen, Abgeordneten sind vom Volk direkt gewählt! Das habe ich auf insgesamt drei demokratischen Kundgebungen am Tag der Deutschen Einheit in Konstanz bekräftigt. Und den übrigen Querdenkern ist es nicht einmal im Ansatz gelungen, den Bodensee einzukreisen. In Konstanz wurde gescherzt, sie hätten es mit dem schönen Mindelsee versuchen sollen.
Bei vielen Verschwörungsmythen und auch den Corona-Protestbewegungen sehen wir nicht nur antisemitische Motive, sondern einen antisemitischen Kern. Was steckt dahinter?
Das Judentum war die erste Religion des Alphabetes, der Schrift, der Bildung. Der Noahsohn Sem – aus dem sich der Begriff des Semitismus ableitet – ist nach jüdischer Überlieferung eben gerade kein Begründer einer sogenannten „Rasse“, sondern der erste Gründer einer Schule in Alphabetschrift!
Deswegen – und nicht wegen irgendwelcher Genetik – erwarben die jüdischen, gerade einmal 0,2 Prozent der Weltbevölkerung, bisher um die 20 Prozent aller Nobelpreise. Bildung von Kindesbeinen an ist der Schlüssel! Und schon in der Antike führte dies zu Verwunderung, Neid und schließlich auch Angst und Hass: Selbst wenn man jüdische Tempel zerstörte, die Menschen verschleppte, versklavte – solange sie ihre Schrift und Schulen hatten, blieben sie beisammen. Über christliche, islamische und schließlich auch säkulare, pseudo-wissenschaftliche Traditionen haben sich leider bis heute antisemitische Verschwörungsmythen gehalten und sind zuletzt auch von einem inzwischen fraktionslosen Abgeordneten unseres Landtags vertreten worden. Auch in linksalternativen Milieus und unter Zugewanderten aus anderen Teilen Europas und der arabischen Welt sind antisemitische Einstellungen leider noch sehr häufig anzutreffen.
Wie groß ist Ihre Sorge, dass hier aus antisemitischen Worten weitere Taten werden?
Im Unterschied zum Rassismus fühlen sich Antisemitinnen und Antisemiten in ihrem Verschwörungswahn sogar dann bedroht, wenn sie gar keinen Kontakt zu Jüdinnen und Juden haben – das habe ich selbst drastisch im Irak erlebt. Sie behaupten dann einfach, der türkische Präsident Erdogan, unsere deutsche Kanzlerin Angela Merkel oder der Virologe Christian Drosten wären „heimliche Juden“ und beschuldigen zum Beispiel Bill Gates, vom jüdischen Holocaust-Überlebenden George Soros oder den Rothschilds finanziert und kontrolliert zu werden. Deswegen führt Antisemitismus leider tatsächlich besonders schnell in die Radikalisierung – die Leute reden sich in Digitalgruppen gegenseitig ein, sich würden sich gegen eine akut drohende Weltverschwörung verteidigen! Ob unter rechten, linken, libertären oder religiösen Extremisten – am Ende läuft es fast immer auf antisemitische Verschwörungsmythen hinaus. Auch deswegen bin ich dem baden-württembergischen Innenministerium und unserer Polizei für besondere Wachsamkeit dankbar.
Viele Verschwörungsgläubige würden vermutlich dem Antisemitismus-Vorwurf widersprechen. Nehmen Sie Ihnen das ab? Und welche Formen der Relativierung des Antisemitismus sehen wir heute?
Klar, heute leugnen die meisten Antisemiten, antisemitisch zu sein. Besonders häufig hört man: Man habe doch gar nichts gegen Juden, nur gegen „Zionisten“ und den Staat Israel. Ein Klassiker auch: Man behaupte doch gar nicht, dass alle Jüdinnen und Juden Teil der Weltverschwörung seien, sondern nur manche.
Tatsächlich sind antisemitische Verschwörungsmythen bis in unsere Sprache hinein und großteils auch unbewusst weit verbreitet. Wer weiß denn zum Beispiel schon, dass die Nazis selbst aus unserer Buchstabiertafel alle hebräischen Namen entfernt und zum Beispiel aus S wie Samuel S wie Siegfried und aus N wie Nathan N wie Nordpol gemacht haben? Nordpol ist ja nicht einmal ein Name, war aber in der NS-Mythologie die Herkunftsregion der vermeintlichen „Arier“. Auch Juristen verwenden bis heute zum Beispiel den BGB-Kommentar, der nach dem NS-Juristen Otto Pallandt benannt wurde. Dabei waren die entscheidenden Arbeiten dazu vom deutsch-jüdischen Verleger Otto Liebermann geleistet und dann vom NS-Regime „arisiert“ worden.
Kurz: Antisemitismus ist noch immer Teil unserer Alltagskultur und –traditionen und wird erst langsam überwunden. Und einige Menschen radikalisieren sich vor diesem Hintergrund, zuletzt beschleunigt vor allem über das Internet. Und, ja, dies führt auch immer wieder zu Gewalt.
Sie warnen vehement vor den „digital verstärkten Gefahren von Verschwörungsmythen“. Welche Gefahren, neben dem Erstarken des Antisemitismus, sehen Sie besonders?
Vorab: Ich liebe das Internet, blogge, podcaste, twittere. Ich hoffe, ich hätte auch den Buchdruck und die elektronischen Medien Telegraph, Radio und Film gleich mit ihrer Einführung geliebt. Allerdings zeigt der Blick in die Geschichte leider auch: Mit jedem neuen Medium gab es neben großen, positiven Effekten immer auch eine große Umwälzung, Verunsicherung und eine Explosion von Verschwörungsmythen. So zerriss es nach der Einführung des Buchdrucks nicht nur die Kirche, es eskalierte auch der Verschwörungsglauben. Juden und Frauen wurde vorgeworfen, den „Hexensabbat“ zu begehen und aus ermordeten Kindern „Hexensalbe“ herzustellen. Unter dem Stichwort „Adrenochrom“ haben wir die gleichen, bizarren Verschwörungsmythen heute wieder massiv im Netz – verbreitet auch durch Xavier Naidoo, einen Musiker aus Baden-Württemberg! Radio und Film wurden wiederum von den Nazis missbraucht, so dass wir zu Recht ab 1945 einen gebührenfinanzierten, öffentlich-rechtlichen Rundfunk bekamen.
Heute warne ich davor, neben aller Begeisterung für die Digitalisierung die Gefahren auch dieser neuen Medien zu übersehen. Antisemitische Digitalsekten wie die aus den USA stammende QAnon oder die aus der Schweiz stammende OCG sowie Querdenker-Angebote wie die „Samuel Youngsters“, die gezielt Minderjährige anzulocken versuchen, sollten jede Demokratin und jeden Demokraten zu Aufklärung und Gegenwehr motivieren.
Was sollte die Politik tun, um Antisemitismus zu bekämpfen?
Mit der Einsetzung eines Bundes-Beauftragten gegen Antisemitismus – schon recht bald nach meiner Einsetzung in Baden-Württemberg – ist ein wichtiger Schritt getan worden. Denn die Bekämpfung des Antisemitismus darf man nicht kurzfristigen Schlagzeilen und Phrasen wie „Wir werden jetzt alles tun!“ überlassen. Stattdessen braucht es einen sehr langen Atem, der Maßnahmen von der Bildung über die Gedenkstättenarbeit und Integration bis zu Medienpolitik, Sicherheit für jüdische Einrichtungen, Strafverfolgung und Begegnung mit jüdischem Leben einschließlich Freundschaft mit dem Staat Israel umfasst. Auf Bitte von vier von fünf Fraktionen unseres Landtags durfte ich unserem Parlament einen Bericht mit 74 Handlungsempfehlungen vorlegen, die wir nun hartnäckig abarbeiten und ergänzen. Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit Abgeordneten, Parteien, Medien, Öffentlichkeit sowie die Abstimmung in einer Bund-Länder-Kommission der Beauftragten. Mir ist völlig klar, dass ich viele Leute häufig nerven muss – in jedem Politikbereich gibt es ohnehin zu viel zu tun und Mittel sind immer knapp. Doch ich setze auf jene Politikerinnen und Politiker in Land, Kommunen, Bund und Europa quer durch alle demokratischen Parteien, für die der „Kampf gegen Antisemitismus“ mehr als ein Lippenbekenntnis ist. Denn letztlich geht es um nicht weniger als um die gemeinsamen Wurzeln unserer Zivilisation, unserer Religionen, Philosophien und Rechtssysteme. Wer den Antisemitismus „nur den Juden zuliebe“ bekämpfen wollte, hat weder die Tiefe der eigenen Kultur noch die Gefahren für unsere Gesellschaft verstanden.