
Foto: Helmut J. Wolf, CC BY-SA 3.0
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Heute vor 60 Jahren: Adenauer kehrt aus Moskau zurück
Heute vor 60 Jahren kehrte Konrad Adenauer von einer Reise nach Moskau zurück. Ergebnis harter Verhandlungen über mehrere Tage hinweg: Die sowjetische Regierung hatte ihm zugesichert, dass die verbliebenen Kriegsgefangenen nach Deutschland zurückkehren dürften. Eines der wichtigsten Ereignisse der jungen Nachkriegsrepublik.
Zu diesem Anlass sprach cdu.de mit Michael Borchard, Jahrgang 1967. Er wurde mit seiner Dissertation über „Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenfrage für die beiden deutschen Staaten und die Westmächte 1949-1955“ zum Dr. phil. promoviert. Heute leitet er das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem.
cdu.de: Im September 1955 reiste Konrad Adenauer nach Moskau, am Ende kehrten rund 10.000 Kriegsgefangene heim – wie war diese Einladung der Sowjetunion an den damaligen Bundeskanzler überhaupt zustande gekommen?
Michael Borchard: 1955 hat die Bundesrepublik Deutschland die sogenannten „Pariser Verträge“ unterzeichnet. Damit wurde die Bindung an den Westen besiegelt, der beispielsweise durch den NATO-Beitritt eingeleitet wurde. Die Sowjetunion hat bis zuletzt alles versucht, um das zu verhindern, auch mit der Drohung, die Kriegsgefangenen, die die Sowjetunion immer – und zum überwiegenden Teil fälschlicherweise – als Kriegsverbrecher deklariert hat, noch länger festzuhalten. Nach der Unterzeichnung der Verträge war die Intention der Sowjets, den größtmöglichen propagandistischen Erfolg zu erzielen. Aus zwei Gründen war die Aufnahme der Beziehungen interessant für Moskau: Das Kalkül war zum einen, eine implizite Anerkennung des Status quo und damit der DDR zu erreichen. Zweitens war es, nach Rapallo, nach dem Hitler-Stalin-Pakt freilich auch ihr Ziel, unterschwellige Ängste vor einem neuen „Sonderweg“ zwischen Deutschland und der Sowjetunion bei den Alliierten zu schüren. Das erste Kalkül ist zu einem gewissen Grad aufgegangen, das zweite Kalkül nicht. Das Vertrauen der Alliierten in Konrad Adenauer war bei allen Zweifeln gegenüber den ausgehandelten Verträgen dann am Ende doch größer.
cdu.de: Anlass der Einladungen waren Verhandlungen zwischen der Siegermacht des Zweiten Weltkrieges und der Bundesrepublik Deutschland über die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen. Welche Ziele verfolgte Adenauer außerdem?
Michael Borchard: Adenauer hat mit seiner einzigartigen Mischung aus Instinkt- und klugem Realpolitiker, ausgestattet mit einem klaren christlichen Wertefundament, sofort begriffen, was die Freilassung der Gefangenen für die Menschen in Deutschland, übrigens in ganz Deutschland, bedeutet. Aber genau dieser Klugheit entsprach es auch, dass er wusste, was die Aufnahme für den internationalen Status der jungen Bundesrepublik bedeutet: Ihm war nur zu klar, dass ein direkter Kontakt zur Sowjetunion eben auch das politische Gewicht Bonns gegenüber den Westmächten erheblich verstärken musste. Nach der Moskau-Reise sagte Adenauer im Bundesvorstand der CDU: „Wir waren doch bisher so der heranwachsende junge Mann, der von den anderen drei nach Belieben mitgenommen oder zu Hause gelassen wurde. Und nun haben wir uns auf einmal in eine Reihe mit ihnen gestellt.“ Adenauer wollte Stärke und Härte gegenüber der Sowjetunion, aber er war kein ideologisch verbohrter „Kalter Krieger“. Den direkten Kanal zur Sowjetunion wollte er sich bei allem unzweifelhaften Bekenntnis zur Westbindung doch offen halten.
cdu.de: Die Verhandlungen zogen sich hin – was konnte der Bundeskanzler dennoch mit nach Hause nehmen?
Michael Borchard: Das exakt war das Problem: Adenauer hatte nichts, absolut nichts in den Händen, als das Ehrenwort, die Kriegsgefangenen werden freigelassen, wenn die Beziehungen aufgenommen werden. Ein Versprechen, das ihm der sowjetische Ministerpräsident Bulganin erst nach langwierigen, kräftezehrenden und schwierigen Verhandlungen gegeben hat. Und wahrscheinlich wäre auch dieses Ehrenwort nicht mal zustande gekommen, wenn Adenauer nicht einen schlauen Trick angewandt und zuvor – wissentlich – über eine abhörbare Leitung die Flugzeuge zum Abbruch der Verhandlungen und zur Rückkehr nach Deutschland bestellt hätte. Adenauer hat die Warnungen, man dürfe dem sowjetischen Regime nicht trauen, in den Wind geschlagen und sich gegen seine Berater durchgesetzt. Er wusste, dass eine Ablehnung des Ehrenwortes in der deutschen Öffentlichkeit wenig Verständnis gefunden hätte. Viel Respekt hat in Deutschland in den Medien übrigens nicht nur seine Entschlossenheit gefunden, was die Rückkehr der Gefangenen betrifft, sondern auch sein selbstbewusstes und führungsstarkes Auftreten gegenüber der „übermächtigen“ Sowjetunion. Das alles hat letztlich zu dem überragenden Wahlerfolg der Union 1957 mit fabelhaften 50,2 Prozent und zur Wiederwahl Adenauers als Bundeskanzler mit beigetragen.
cdu.de: Was bedeutete die Freilassung der 10.000 im noch jungen Nachkriegsdeutschland?
Michael Borchard: Bis in die Gegenwart schätzen die Menschen in Deutschland in Umfragen den Verhandlungserfolg Adenauers in Moskau als seine größte politische Tat ein. Und das ist kein wirkliches Wunder. Denn von der Kriegsgefangenenfrage fühlte sich direkt oder wenigstens indirekt so gut wie jede Familie betroffen. Bis heute sind weit mehr als eine Million Soldaten vermisst. Da konnte es niemanden kalt lassen, dass sich wenigstens die Hoffnungen von beinahe 10.000 Familien auf ein Wiedersehen mit ihrem geliebten Ehemann, Bruder, Verlobten, Sohn oder Vater erfüllt haben. Man stelle sich vor, dass viele dieser Gefangenen über zehn Jahre von ihren Liebsten getrennt waren. Sozial und politisch war das freilich auch ein weiterer Schritt, die unmittelbaren Traumata des verheerenden Krieges wenigstens teilweise hinter sich zu lassen. Das alles erklärt auch, warum die Kritiker Adenauers, die 1955 behaupteten, die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen bedeute die de-facto-Anerkennung der DDR, nur wenig öffentliches Gehör gefunden haben.